Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
die essen dann, zum Beispiel Angelika Milster, von ihr weiß ich, dass sie essen muss, wenn sie aufgeregt ist. Ich kann nicht essen, wenn ich nervös bin, ich bekomme keinen Bissen herunter. Und so lief ich also im Gang des Zuges hin und her. Meine Mutter verabreichte mir eine halbe Flasche Baldrian, die andere Hälfte nahm sie selbst, sie war nämlich auch aufgeregt. Ich kann heute nicht sagen, ob es was brachte. Wäre ich frei herumgelaufen, wären mir sicher die Katzen nachgekommen, die mögen Baldrian auch.
In unserem Abteil saß ein Theaterregisseur, der sah meine Gitarre, sprach meine Mutter darauf an, und sie kamen ins Gespräch. Er riet ihr vehement davon ab, mich Sängerin werden zu lassen. Ich weiß nun, warum – weil die Menschen diese Berufe, die mit viel Öffentlichkeit verbunden sind, zu verklärt sehen und die Wirklichkeit der meisten sogenannten Promis nicht erkennen können. Die Medien tun das ihre dazu, sie als die »Schönen und Reichen« hinzustellen. Mich hätte damals trotzdem niemand davon abhalten können. Es ging mir tatsächlich um Musik, der Erfolg war noch zweitrangig. Heute denken viele, die Musik machen wollen, in erster Linie an den Erfolg, und das kann verhängnisvoll sein. Natürlich wusste ich später, dass Erfolg wichtig ist. Wenn man ihn hat, ist man freier in dem, was man tun möchte.
Das Hochschulgebäude, ein großer, allein stehender Bau in der Blochmannstraße 2-4 am Fucikplatz, flößte mir Respekt ein. Im Eingangsbereich führte eine große Treppe nach oben, rechts gab es ein kleines Pförtnerhäuschen, an dem vorbei man hinunter zur Aula kam. Dort herrschte große Unruhe, ungefähr dreißig Prüflinge sangen sich ein. Mir wurde flau im Magen. Von Zeit zu Zeit öffnete sich eine große Tür, aus der diejenigen heraustraten, die es bereits hinter sich hatten. An ihrem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, wie die Prüfung gelaufen war.
Ich zog in der Toilette mein dunkelblaues Konfirmationskleid an, weil ich nicht in Straßenkleidung auftreten wollte. Dann wartete ich, bis ich an der Reihe war.
Der Prüfungsraum war ein bestuhlter Saal mit einer Bühne am anderen Ende. In der ersten Reihe saßen zehn Gesangsdozenten. Links auf der Bühne stand ein Flügel, auf dem ein Pianist den Prüfling bei Bedarf begleitete. In meinem Fall nicht, ich hatte ja die Gitarre. Ich wusste gar nicht, dass man sich begleiten lassen konnte, und Noten hatte ich von keinem Lied.
Ich war wie in Trance und hielt mich an meiner Gitarre fest, als ich vorbei an den Dozenten – alles gestandene Opernsänger oder Musikprofessoren – auf die Bühne ging. Ich weiß nicht mehr, ob ich meinen Namen sagte oder ob ich etwas gefragt wurde. In meiner Erinnerung sang ich einfach los: »Sag mir, wo du stehst«, dann das Volkslied »Kein Feuer, keine Kohle«, als Nächstes »Sag mir, wo die Blumen sind« und zum Schluss »Morning of My Life«. Die Stimme versagte nicht.
Wenn ich heute zurückdenke, weiß ich, dass mir die Naivität half. Denn es gehört schon eine Portion Mut dazu, ohne Vorkenntnisse vor solch erfahrenen Sängern und Dozenten zu stehen und zu singen. Aber ich war eine der jüngsten Anwärter, erst sechzehn Jahre alt, die anderen schon Abiturienten. Das half mir. Mein Vortrag wurde freundlich aufgenommen. Ich durfte den Saal verlassen. Keine Ahnung, was sie dachten. Meine Mutter empfing mich aufgeregt vor der Aula. Viele Augen sahen mich an, ich wusste nichts mehr!
Als Nächstes wurde ich zur Gehörprüfung gebeten, musste Dur und Moll unterscheiden und wurde in Musiktheorie geprüft. Der Dozent war zufrieden und meinte, dass ich gute Chancen hätte, aufgenommen zu werden. Ach ja, meine politische Einstellung wurde noch geprüft. Da ich kaum eine hatte, schwamm ich durch diese Befragung mit meinem Bauchgefühl hindurch. Das half…
Als alles geschafft war, gingen wir schnurstracks zum Hauptbahnhof. Wir fuhren am gleichen Tag noch zurück. Im Zug aßen wir belegte Brote, die herrlich schmeckten, das weiß ich noch. Ich war erleichtert und voller Hoffnung.
Tja, wie lange wartete ich auf Antwort? Es waren wohl vier Wochen. Als der Brief aus Dresden endlich kam, kriegte ich vor Aufregung kaum den Umschlag auf. Wie groß war meine Freude, als ich schwarz auf weiß zu lesen bekam, dass ich »wegen meiner Begabung studieren« dürfe! Es war ein besonderer Moment nicht nur für mich, sondern für die ganze Familie. Meine Zukunft begann, klare Konturen anzunehmen, eine spannende Zeit lag vor
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