Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und die DDR betreuten jeweils einen eigenen Bauabschnitt. Von den insgesamt 2.750 Kilometern Erdgasleitung, die von Orenburg bis nach Uschgorod führen sollte, hatte die DDR 518 Kilometer selbst zu finanzieren und zu erbauen. Dafür sollten alle beteiligten Länder rückwirkend kostenlos mit Gas und Erdöl beliefert werden. Die DDR kostete das nicht wenig. Das Projekt wurde umgesetzt, indem man Arbeiter mit Vorteilen lockte. Sie durften sich einen begrenzten Teil ihres Lohnes auf ein Genex-Konto einzahlen lassen, was normalen DDR-Bürgern verwehrt blieb, und konnten sich dementsprechend mehr leisten. Außerdem gab es einen »Trassenzuschlag« in Höhe von 25 DDR-Mark pro Arbeitstag zusätzlich zum weitergezahlten Lohn zu Hause und eine sogenannte »Autokarte«, also einen Sonderbezugsschein für einen Pkw nach Wahl, der nach drei Jahren ununterbrochener Trassentätigkeit überreicht wurde – mit dem Versprechen, dass nach weiteren zwei Jahren dieser Wagen brandneu daheim vor der Tür stehen würde. Die durchschnittliche Wartezeit für einen Wartburg lag zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren. Ob die drei Jahre Schufterei an der Trasse plus der weiteren Wartezeit den Einsatz bei Wind und Wetter wettmachten, möchte ich hier nicht beurteilen…
Jedenfalls fand die Regierung mit diesen blumigen Versprechen genügend Arbeiter. Ein Vergnügen war das sicher nicht, es hieß: schuften ohne Ende, ohne Familie, Frau oder Freundin, wohnen in windigen Baracken, auskommen mit anderen auf engstem Raum. Ein starker Wille war gefragt für ein paar Vergünstigungen mehr. Um den Bauarbeitern diese Zeit etwas erträglicher zu machen, schickte die DDR Künstler »an die Front«. So würde ich es bezeichnen, dieses Gefühl überkam mich vor Ort. Tatsächlich erinnert die Logistik der Angelegenheit – von den Vergünstigungen für die Freiwilligen über die Entbehrungen bis zu den »künstlerischen Erfrischungen«, die geboten wurden – an die Art, wie die Bundeswehr heutzutage in Afghanistan ihren Einsatz organisiert. Die politischen Ziele waren und sind sicher andere – damals sollte das sozialistische Lager gestärkt, heute Terrorismus abgewehrt werden –, aber die Form ist die gleiche: Man will den Durchhaltewillen der eingesetzten Kräfte stärken, sie motivieren, und dazu braucht man uns Künstler.
In Hoffnung auf eine Gegenleistung waren wir also bereit, dabei zu sein. Jetzt mussten die Technik und sämtliche Instrumente in extra gebauten Kisten für den Flug verstaut werden. Danach wurden wir alle in eine Interflug-Maschine gesetzt, die Reise ging nach Krasnodar. Das war die günstigste Verbindung in dieses Gebiet. Dort bestiegen wir einen Kleinbus und wurden in die Gegend von Krementschuk geschaukelt, anders kann ich es nicht bezeichnen – wir fuhren durch unbebautes Land ohne Straßen, es ging querfeldein durch die russische Landschaft. Die Ecke war dünn besiedelt, nicht schön, keine Touristengegend. Aber wir waren darauf eingestellt.
Wir sollten an möglichst vielen Stationen den Bautrupps aufspielen, insgesamt sechsmal. Unsere »Bühne« waren große Lkws ohne Überdachung. Wir hatten Glück, es gab keine schweren Schauer, obwohl der Himmel immer bedeckt war. Ein Regenguss wäre übel gewesen für Instrumente und Technik. Als ich zum ersten Mal auf der Ladefläche stand, musste ich an einen Filmausschnitt mit Marlene Dietrich denken. Sie hatte ja im Zweiten Weltkrieg vor amerikanischen Soldaten gesungen, genau wie Marilyn Monroe. Alles zum Wohl der Truppe. Bei den beiden waren es vom Krieg gezeichnete Männer gewesen, wir spielten vor überarbeiteten, müden und kaputten Bauarbeitern. Gott sei Dank nicht im Krieg, aber das »Frontgefühl« blieb. Und auch die Tatsache, dass das Publikum fast ausschließlich aus Männern bestand. Ich fühlte mich hemmungslos beobachtet. Die Luft brannte vor männlicher Energie.
Wir gaben unser Bestes trotz der schwierigen Bedingungen, wir spürten, dass wir Freude brachten. Sehnsüchte kamen hoch, aber dafür sind Kunst und Musik ja da. Sie können trösten und für eine Weile heilen.
Wir übernachteten wie alle in den Baracken. Mein Mann an meiner Seite, das war gut so. Mit der Zeit machte sich ein gewisser Tourkoller breit. Gitarrist Axel Stammberger wusch sich von einem Tag auf den anderen aus Protest seine Haare nicht mehr, um ein Zeichen gegen die »Trassenpolitik« der DDR zu setzen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Zusammenhang
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