Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Leben bezahlen mussten. Allerdings war es ein Irrtum gewesen zu glauben, ich sei die Verfolger losgeworden, bloß weil ich sie nicht mehr sah. Ich erkannte sie nur nicht mehr, sie tarnten sich besser: als freundliche Besucher und zufällige Begegnungen, wie ich später in meinen Stasiakten las. Über den Mauerfall hinaus bis zur Wiedervereinigung wurde ich observiert. Ich war immer noch so wichtig, dass sie Spitzel auf mich ansetzten. Das Geld hätte für Besseres verwendet werden können. Aber damit nicht genug: Aus meinen Akten erfuhr ich Erstaunliches. Meine gesamte Familie hatte seit meinem Weggang unter Beobachtung gestanden. Die älteren Schwestern, die mit eigener Familie in Thüringen lebten, genauso wie meine Eltern. Jeder Kontakt zu mir, egal ob per Telefon oder auf dem Postweg, wurde registriert und geprüft. Meine älteste Schwester Anita wurde im Betrieb auf einen Platz versetzt, den sie nicht wollte. Sie vermutete Schikane.
Meine zweite Schwester Sabine, die in Gotha lebte, stand noch stärker im Visier der Staatssicherheit. Ihr Mann Volker war Arzt, ihre Schwiegermutter folgte dem anderen Sohn nach Düsseldorf. Volker, der ungewöhnlicherweise eine Reiseerlaubnis erhielt, blieb tatsächlich nach einem Besuch bei seiner Mutter im Westen und bat von dort aus um Ausreisegenehmigung für seine Familie. Das Warten zermürbte alle. Für die Behörden hatte sich das Misstrauen bestätigt, die Ausreise wurde erwartungsgemäß nicht genehmigt. Das verwunderte nicht angesichts der Bevormundung der Menschen. Nach einem halben Jahr im Westen kam Volker zu mir nach Berlin und bat verzweifelt um Hilfe. Was konnte ich tun?
Ich berichtete in Talkshows von den Umgangsformen des DDR-Staates mit seinen ausreisewilligen Bürgern. Aber das brachte gar nichts, ich stand nur noch stärker im Fokus der Stasi und beging nun zusätzlich noch eine Straftat, indem ich vermeintlich Bürger der DDR »abwarb«.
Volker packte es nicht, er hielt die Trennung nicht aus, fuhr zurück nach Gotha. Dort holten sie ihn ab und verhörten ihn. Dabei wurden Methoden angewendet, an die ich gar nicht denken will.
Ich bemühte mich, mit meinen Mitteln zu helfen. Als sie zur Wendezeit endlich ausreisen durften, fand die vierköpfige Familie vierzehn Tage bei uns Unterkunft. Für alle eine sehr schwere Zeit, besonders die beiden Kinder erlebten den Verlust ihrer gewohnten Umwelt als hart. Zu gut konnte ich ihnen das nachfühlen!
Wir brauchten eine größere Wohnung, Benjamin sollte ein Zimmer für sich bekommen. 1984/85 zogen wir um nach Tempelhof in eine Dreizimmerwohnung unterm Dach. Grüner als im Wedding war es dort auch.
Umziehen gehört zu meinem Leben wie die Musik. Wobei mir Musik sehr viel mehr Spaß macht.
Im Wedding hatte ich über Benjamins Kindergartenfreund Alexis seine Eltern Kerstin und Stefan Gebhardt kennengelernt, die aus Leipzig stammten, aus dem Osten wie wir. Kerstin stand mir näher als die westlichen Frauen in dieser Zeit. Sie studierte Jura, schon überlang, und Stefan kümmerte sich ums Geld. Mit Kerstin verstand ich mich gut, auch wegen unserer Stellung als Frau im neuen Land. Wir freundeten uns an und fuhren einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Wir wollten die westliche Welt kennenlernen, unternahmen Reisen zum Beispiel nach Italien in die Toskana, entdeckten von dort aus Rom und Siena. Im Laufe der Zeit waren wir an fast allen Mittelmeerstränden, die sich doch in vielem ähneln.
Als Benjamin vielleicht vier Jahre alt war, fuhren wir nach London, von Hamburg aus mit der Fähre nach England, weiter per Bus. London interessierte mich besonders wegen der Musik dort. Ich wollte ein bisschen in die Atmosphäre der Jugend eintauchen. Das war mit einem Kleinkind nicht so einfach, aber die Oma fuhr mit, und so konnten László und ich auch mal allein durch die britische Hauptstadt streifen und uns einen unmittelbaren Eindruck verschaffen. Die sozialen Welten dort prallten extremer aufeinander als in Deutschland. Monarchie und heftige Klassengegensätze, Marx war allgegenwärtig – die Jugend verrückter und haltloser als hier. Das irritierte mich. Ich wollte mich ihrer Musik und Kultur nähern und empfand mich immer mehr als Durchreisende. Denn an direkten Kontakten fehlte es uns. Die Musik der Engländer gefällt mir zum größten Teil bis heute, mitunter finde ich sie spannender als die der Amis. Obwohl man letztlich nicht werten sollte: Jede Musik hat ihre Besonderheiten.
Auf der Rückreise fuhren wir per
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