Das Lustschiff
unbeobachtet glaubte, ließ er seinen Blick doch über ihren Körper schweifen. Von wegen kein Interesse! Wenn sie sich nicht täuschte, gefiel ihm sogar, was er sah, denn ein kleines Lächeln erschien auf seinen markanten Zügen.
Sie war froh, dass diese Begegnung eine einmalige Sache bleiben würde, ein Mann wie er konnte ihr gefährlich werden. Doch schon übermorgen würde sie Deutschland verlassen und danach 24 Tage unterwegs sein. Hamburg–New York, hin und zurück. Was für ein Traum!
Carolin stellte ihre zwei Koffer ab und beobachtete die Wellen, die sanft, aber stetig gegen den Rumpf der MS Sea Love schlugen, an dem riesigen Kreuzfahrtschiff zerschellten, ohne den mächtigen Koloss aus der Ruhe zu bringen. Der Wetterbericht hatte nicht gelogen. Dunkle Wolken zogen am Hamburger Hafen auf, trieben das Wasser unaufhörlich der Stadt entgegen. Nicht unbedingt das schönste Reisewetter, aber schon bald würde das Schiff den Atlantik überqueren, und ab da begann für die über 2500 Passagiere, die morgen an Bord gingen, der wohlverdiente Urlaub auf dieser gewaltigen schwimmenden Metropole. Theater, Casinos, Restaurants, Kinos, Einkaufsmeilen, alles, was das Herz begehrte, und noch mehr erwarteten sie auf dem 340 Meter langen Luxusliner, der von der Wasserlinie bis zum Schornstein über 70 Meter in die Höhe ragte. Die amerikanische Reederei Sea Tours unterstand dem millionenschweren Unternehmer Erik Osburne, der, wie man unter Kollegen munkelte, ein schwieriger Mensch war. Eins musste man Osburne in jedem Fall lassen, er wusste, was seine Gäste wünschten. Jedes seiner Schiffe gehörte zur Luxusklasse und verfügte über ein sehr großes Bord-Entertainment-Programm, in der Regel sorgten etwa tausend Mitarbeiter für das Wohlergehen der Gäste an Bord. Kein Wunder also, dass die Preise gepfeffert waren. Privat wäre für Carolin ein solcher Urlaub undenkbar. Aber durch ihren Job kam sie in diesen außergewöhnlichen Genuss. Seit Tagen freute sie sich darauf, endlich wieder in See zu stechen, das Festland hinter sich zu lassen. Dies war außerdem eine Premiere. Ihre erste Fahrt mit der MS Sea Love , wenngleich sie schon mit anderen Schiffen aus der Reederei Sea Tours gefahren war. Aber Schiff war nicht gleich Schiff. Sie war spontan für einen Kollegen eingesprungen, der krank geworden war. Ob es Fügung oder Schicksal war? Sie konnte diesen Job jedenfalls gut gebrauchen.
Carolin atmete tief durch, schnappte sich ihre Koffer und ging an Bord, meldete sich auf der Brücke, die sich recht weit oben am Bug befand. Der Mann in der weißen Uniform, auf der die Kapitänsabzeichen prangten, hatte ihr den Rücken zugewandt, diskutierte gerade mit einem Offizier. Doch als Carolin sich leise räusperte, wandte er sich ihr zu. Die dunklen Pupillen, die Lachfalten unter den Augen, das grau melierte Haar. Dorian Zeissner!
»Frau Winter, schön Sie wieder einmal an Bord zu haben«, sagte Zeissner erfreut und schüttelte ihr die Hand. Wie gewohnt war sein Händedruck sehr kräftig. Aber das musste er wohl auch sein, denn ohne diesen Mann lief an Bord gar nichts. Er hatte die verantwortungsvollste Aufgabe von allen, wurde dabei jedoch von seinen zwei Ersatzkapitänen unterstützt.
»Danke. Ich war letzten Monat für zwei Wochen im Pazifik, wird eine schöne Abwechslung, mal wieder die andere Seite der Erdkugel zu sehen.«
Zeissner lachte. »Ja, nur Landratten glauben, das Wasser sähe überall gleich aus.«
Wie recht er damit hatte. Jemand reichte ihr die Schlüsselkarte für ihre Kabine, die sich direkt über dem Maschinendeck befand.
Carolin machte sich gleich auf den Weg. Sie war guter Dinge, weil sie viel auf Zeissner hielt. Er war ein hervorragender Mann, agierte stets mit Ruhe und Bedacht. Außerdem war er ein Teamplayer, was man leider nicht von jedem Kapitän behaupten konnte. Sie freute sich nun umso mehr auf die Fahrt. Mit dem Lift fuhr sie zum Deck A, wo auch die anderen Crewmitglieder untergebracht waren. Schnell fand sie ihre Kabine. Die war ungewöhnlich klein, aber gemütlich ausgestattet, was ihr bei Reisen wichtig war. Die Einrichtung bestand aus typischen Sea-Tours -Möbeln – terrakottafarbener Teppich, braune Couch, einfaches Bett mit Holzgestell. Die Crewkabinen sahen auf jedem Schiff gleich aus. Lediglich die Größe der einzelnen Unterbringungen unterschied sich.
Carolin öffnete ihre Koffer, hängte ihre Uniformen in den Schrank und verstaute ihre Privatkleidung in der kleinen Kommode neben dem
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