Das Luxemburg-Komplott
russischen Genossen erfahren haben?« fuhr Friesland fort. »Die Schlussfolgerung ist, dass wir den Feind vernichten müssen, bevor er uns vernichtet. Das können wir uns nicht aussuchen, eine Revolution ist kein Spiel, sie ist gezwungen, auf das zu reagieren, was der Feind tut. Und wenn der Feind zur Gewalt greift, muss die Revolution ihn darin noch übertrumpfen. Wenn sie rücksichtslos sind, müssen wir rücksichtsloser sein. Wenn sie heimtückisch sind, müssen wir heimtückischer werden. Eine Revolution ist eine besondere Art von Krieg. Jede Schwäche der einen Seite ist die Stärke der anderen. Wenn wir darauf verzichten, den Mordanschlag zu ahnden, werden wir doppelt und dreifach bezahlen. Wenn wir also so leisetreterisch handeln wie der Genosse Zacharias, dann können wir die Revolution auch gleich per Beschluss beenden und uns ins Exil oder vor die Gewehrläufe der Feinde stellen. Das ist doch die Frage: Entweder wir kämpfen mit allen Mitteln, oder wir ertrinken in einem Blutbad, das es nur geben wird, weil ein paar zarte Seelen es verhindern wollten. Das ist die Dialektik unserer Revolution.«
Friesland setzte sich. Einen Augenblick herrschte völlige Stille, dann brach Beifall los. Sogar die Luxemburg-Freundin Zetkin klopfte leise auf den Tisch. Zacharias erinnerte sich eines Bonmots, das vor dem Krieg umging und Rosa zugeschrieben wurde. Das Hirn der Genossin Zetkin sei ein Hohlgefäß, in das der jeweilige Gesprächspartner hineinfülle, was er wolle. Er musste grinsen, obwohl es nicht die Zeit war, sich an etwas zu erfreuen, und wenn es sich nur um eine Gemeinheit handelte.
Zacharias sah, wie Liebknechts Augen glänzten, der sich bemühte, nicht zu Rosa zu schauen, die wie erstarrt neben ihm saß. Sie schien zu ahnen, dass nun der Wendepunkt gekommen war. Die deutsche Revolution wäre vielleicht später abgewürgt worden durch innere und äußere Feinde, aber sie gab sich vorher selbst auf.
Zacharias schaute in Rosas Gesicht und sah die Niederlage. Aber was er nicht sah, war ihre Entschlossenheit, zu kämpfen. Als der Beifall abgeklungen war, meldete sie sich zu Wort und begann zu sprechen, leise, so dass die Zuhörer schweigen mussten, um sie zu verstehen. Und sie war ja nicht irgend jemand, bei dessen Wortmeldung man mit seinem Tischnachbarn weiterschwätzte.
Sie schaute sich um im Kreis und sagte: »Genossen, das ist mir alles zu einfach. Ich fürchte, Sie gehen von falschen Tatsachen aus. Ich hoffe, der Genosse Zacharias hat nichts einzuwenden, wenn ich Sie darauf hinweise, dass der Mordanschlag auf mich gar nicht stattgefunden hat.«
Auf einen Schlag starrten sie alle an. Zacharias erschrak erst, dann bewunderte er Rosas Geschick. Es war ein rhetorisches Kunststück.
»Es stand eine Gruppe von Bewaffneten vielleicht sieben Meter von mir entfernt. Sie legten an und schossen. Aber sie haben mich nicht getroffen. Und das kann nur daran liegen, dass sie mich nicht treffen wollten.« Sie schwieg und ließ ihre Worte wirken. Vielleicht genoss sie die Wut, die sich auf Frieslands Gesicht zeigte. Pieck begann zu schwitzen, unter den Ärmeln wuchsen dunkle Flecken. Treffer, dachte Zacharias. Aber noch nicht versenkt.
»Das hat mir der Genosse Zacharias erklärt, der mit solchen Gewehren geschossen hat. Und ich habe keinen Grund, ihm das nicht zu glauben.«
Sie schauten Zacharias an. »Und was haben Sie uns noch verschwiegen?« brüllte Pieck.
»Der Genosse Zacharias wird uns bestimmt nachher eine Erklärung geben. Lassen Sie mich fortfahren. Wenn es also kein Mordanschlag war, jedenfalls nicht der, von dem die verehrten Genossen sprachen, obwohl er Tote und Verletzte forderte, was war es dann? Was war die Absicht hinter dieser Aktion? Darüber habe ich und hat auch der Genosse Zacharias nachgedacht. Es spricht für das Verantwortungsbewusstsein des Genossen Zacharias, dass er die verehrten Mitglieder der Zentrale nicht mit Vermutungen behelligen wollte. Allerdings gibt es bessere Gründe für diese Vermutungen als für die These, die zu vertreten die Genossen Friesland und Pieck sich Mühe geben.«
Leises Gelächter irgendwoher.
»Betrachten wir die Sache vom Ende her. Bedienen wir uns der gleichen Logik wie Friesland. Dieser Mordanschlag, der keiner war, kann nur das Ziel haben, die Volkskommissare und die revolutionären Parteien dazu zu veranlassen, die Staatsmacht einzusetzen gegen alle jene, die wir als unsere Gegner betrachten. Wenn ich also der Logik des Genossen Friesland folge, dann
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