Das Luxemburg-Komplott
recht. Aber lässt man deshalb das eigene Volk verhungern? Ein paar Genossen haben vorgeschlagen, Requirierungstrupps aufs Land zu schicken …«
»Wie in Russland«, sagte Zacharias erschrocken.
Däumig verwahrte sich nicht gegen die Unterbrechung. Er schaute Zacharias in die Augen. »Sie wissen da etwas. Was erschreckt Sie so?«
Zacharias schüttelte den Kopf. Diese verfluchten Bilder griffen nach ihm.
»Die Genossen der sowjetischen Botschaft haben angeboten, uns zu beraten. Sie hätten auf diesem Gebiet ihre Erfahrungen. Was ist mit Ihnen, Genosse Zacharias?«
»Darf ich Sie bitten, sich für unsere Kommission einzusetzen, eingeschlossen die bürgerlichen Kriminalisten, die wir brauchen, bis wir eigene ausgebildet haben? Und erlauben Sie mir, nach Hause zu gehen. Ich will ein paar Stunden schlafen.«
Däumig schaute ihn neugierig an, dann nickte er und reichte Zacharias die Hand. »Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte er.
Zacharias verließ das Gebäude und stieg die Treppe hinab zur Straße. Zwei Posten standen vor der Eingangstür und flüsterten miteinander. Sie stampften mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Aber die kroch durch die Kleidung und klammerte sich an die Haut. In Russland war es kälter gewesen, aber trockener, so dass man nicht gleich fror. Zacharias lief zum Bahnhof Friedrichstraße und fuhr nach Hause.
Er sah das flackernde Licht aus dem Küchenfenster, eine Petroleumlampe im Luftzug. Er roch sie schon im Flur. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass seine Mutter tot in ihrem Bett lag. Er empfand keine Trauer, ihn bedrückte aber eine Last. Zacharias verstand nicht, welcher Art sie war. Die Mutter hatte ihn allein gelassen, und auch wenn es ihm befremdlich erschien, das warf er ihr vor.
In der Küche saß Margarete am Tisch, vor sich eine dampfende Tasse. Es war ihm selbstverständlich, dass sie hier war, und auch sie schien sich zu Hause zu fühlen. Er wunderte sich nur, wie nüchtern sie miteinander umgingen. Dann fand er es wieder angemessen. Er setzte sich an den Tisch, Margarete stand auf und goss Zacharias einen Becher Kriegskaffee ein. »Morgen vormittag ist die Beerdigung.«
»So schnell. Danke.«
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Wenn es dir recht ist, bleibe ich dann hier.«
»Ja. Aber es ist nicht wie früher.« Er erinnerte sich der ersten zarten Berührungen. Wie sie die erst abwehrte, doch dann zuließ. Sie hatten sich heimlich geküsst, unbeholfen und ohne zu verstehen, was daran sein mochte. Jetzt lebten sie nebeneinander in einer Wohnung, ohne die Berührung zu suchen.
»Nichts ist wie früher. Damit muss man sich abfinden«, erwiderte sie. »Aber zur Beerdigung kommst du?«
Er hatte ihr nicht viel erzählt über das, was er tat. Es genügte, dass sie begriff, wie tief er verwickelt war in die Revolution. Sie hatte sich nicht geäußert, ob sie diese Revolution begrüßte oder ablehnte. Zacharias glaubte inzwischen, es war ihr gleichgültig. Besser würde es sowieso nicht, egal, ob alles blieb, wie es war, oder ob sich alles änderte. Sie verstand nicht die Aufregung der Menschen über den Sozialismus, den alle Arbeiterparteien forderten, was sie aber nicht hinderte, sich gegenseitig umzubringen. Margarete hatte schon im Krieg beschlossen, die Menschen und die Welt, in der sie lebten, für verrückt zu erklären. Einen vernünftigen Grund für diese Zustände konnte es nicht geben.
»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte er, um etwas zu sagen.
»Schlecht«, sagte sie tonlos. »Sie werden deiner Mutter bald folgen.«
»Liebst du mich?« fragte er. Gleich schalt er sich einen Dummkopf. Wenn man müde ist, redet man dummes Zeug.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und lächelte ein wenig. »Jedenfalls wohne ich nun hier. Und wenn du willst, können wir heiraten. Das haben wir doch einmal gewollt.«
Ihm kam es vor, als klammerte sie sich mit aller Kraft an ihre Erinnerung. Gut war in ihrem Leben nur, was vergangen war. »Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen«, sagte er.
»Doch, man muss es. Wenn ich es nicht versuchte, ich würde wahnsinnig.«
Er überlegte, ob sie schon wahnsinnig war oder nur er oder sie beide. Hinten lag die tote Mutter im Bett, und sie redeten Unsinn. Unwillkürlich hatte er laut gesagt, was er dachte.
»Sie liegt nicht mehr dahinten. Kaminski hat sie vorhin geholt.«
Kaminski war der Bestatter, er brachte alle Leute in dieser Gegend unter die Erde, und er tat es zu einem Preis, den Arbeiter bezahlen konnten. »Will er
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