Das Luxemburg-Komplott
Bebels Frau und Mehrings Geschichte der Sozialdemokratie. Aber Bebel war tot, dem Himmel sei Dank, er musste nicht erleben, wie seine Partei auf den Hund kam, und Mehring war gerade gestorben, mitten in der Revolution, die er herbeigeschrieben hatte. Vielleicht gab es keinen schöneren Tod als in der Zeit der Hoffnung.
Einige Gesichter wendeten sich Zacharias zu. Er konnte nichts darin lesen, zumal er die Leute nicht kannte. Vielleicht erinnerte er sich an zwei, drei Gesichter, aber er hätte die Namen nicht nennen können. Die anderen Leute waren ihm fremd. Dann war der Redner fertig, und der Sarg wurde an Seilen hinuntergelassen. Die Sargträger gingen weg, es sah eher komisch aus, wie sie sich um Würde mühten.
Der erste Trauergast schritt zum Grab, nahm die kleine Schaufel im daneben geschichteten Erdhaufen und warf Erde in die Grube. Dann trat er vor Zacharias und reichte ihm die Hand. »Mein Beileid.« Er hatte Runzeln im Gesicht und dünne graue Augenbrauen, die sich über der Nase berührten. Zacharias wollte ihn fragen, wer er sei, aber er schwieg, der Mann gab Margarete die Hand und sagte wieder: »Mein Beileid.«
Eine Frau folgte ihm. Sie hinkte, und ihr Gesicht zeigte jahrelangen Hunger. »Ich habe wie sie bei Borsig geputzt. Auch wenn das Geld am Ende nichts mehr wert war, wir hatten Arbeit.« Dann gab sie Zacharias ihre Hand, in der keine Kraft mehr steckte. Zacharias stellte sich vor, wie die Frau putzte.
Dann kam ein Mann und sagte, er sei ein Freund und Kollege des Vaters gewesen und er habe die Mutter geschätzt. Dabei ging ein Strahlen über sein Gesicht. Er wisse, Zacharias engagiere sich für die neue Regierung, »diese Volkskommissare«, er aber sei Sozialdemokrat geblieben und daher gegen jede Diktatur. Er wolle nur, dass Zacharias es wisse, es gebe noch Sozialisten, die diesen Sozialismus ablehnten, weil er schlimmer sei für die Arbeiter als der Kapitalismus. »Die Demokratie, Genosse Zacharias, ist die Voraussetzung des Sozialismus. Ihr habt Bernstein nie begriffen, deine rote Rosa schon gar nicht.«
Natürlich erinnerte sich Zacharias an die Debatten des Vaters mit seinen Freunden. Wie sie auf die Luxemburg schimpften, die doch keine Ahnung habe davon, wie es in den Fabriken aussehe. Gut, sie habe sich tapfer geschlagen gegen die Staatsgewalt, und als sie die Soldatenmisshandlungen aufdeckte und deshalb angeklagt wurde, da habe die Sozialdemokratie hinter ihr gestanden wie ein Mann. Aber was war ihr Dank? Dass sie den Parteivorstand angegriffen habe, immer wieder, obwohl der doch immer eine riesige Mehrheit der Mitglieder hinter sich gehabt habe. Mit dem Kopf durch die Wand. Rechthaberei, Revoluzzertum. Na gut, als Lehrerin auf der Parteischule, da habe sie einen guten Ruf erworben. In Theorie sei sie gut, in der Praxis eine lärmende Versagerin.
Zacharias hörte sich an, was der Kollege des Vaters sagte, und widersprach nicht. Endlich zog ihn Margarete am Arm und flüsterte: »Jetzt können wir gehen.« Sie hakte sich ein, und sie gingen nach Hause.
Sie saßen eine Weile am Tisch, dann sagte sie: »Du kannst ruhig gehen, ich kläre das mit Kaminski, und du machst weiter Revolution.« Sie lächelte sogar ein wenig. Aber er wusste nicht, was sie hielt von dem, was er tat. Sie nahm es hin, weil sie zu ihm gehörte. Er überlegte, ob sie bei ihm bliebe, wenn sie alles erführe über ihn. Ihm schauderte vor sich selbst. Manchmal empfand er sich als Ungeheuer, das Menschen fraß. Wir retten die Menschheit, bis es keine Menschen mehr gibt. Das hatte ein russischer Genosse gesagt, als er sich nach einer Aktion betrunken hatte.
14
I
m Polizeipräsidium traf Zacharias allein Lohmeier an. Er mühte sich, diesen Mann nicht nur ekelhaft zu finden. Sei neutral, du hast ihn angeheuert, nun nutze seine Fähigkeiten und behandle ihn korrekt. Lohmeier erhob sich devot, als Zacharias vor seinem Schreibtisch stand. »Ich glaube, wir wissen nun, wo der Mann wohnt«, sagte Lohmeier.
»Der Anführer?«
»Ja.«
»Wie haben Sie ihn gefunden?«
»Wir haben das Bild überall gezeigt, bis wir einen trafen, der den Mann offenbar kannte. Er nannte uns den Namen, und über den Namen fanden wir schließlich seine Anschrift.«
»Ist er zu Hause?«
»Die Kollegen sind unterwegs und versuchen ihn zu verhaften.«
Zacharias spürte, wie er unruhig wurde. Er ging in sein Zimmer und schaute aus dem Fenster auf den Alexanderplatz. Im Nieselregen eilten Menschen hin und her, ohne dass es ein Muster ergab.
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