Das Luxemburg-Komplott
Russland ist Krieg, es geht drunter und drüber. Es wird gemordet, geraubt und geschändet. Bürgerkrieg ist die grausigste Form der Kriege. Wie in der Französischen Revolution.«
Rosa nickte. »Ich habe eine Broschüre geschrieben über Russland. Solidarität und Kritik an der Diktatur. Meine Genossen hier sagen, ich dürfe sie nicht veröffentlichen. Der Klassenfeind würde mich als Kronzeugen gegen die Revolution benutzen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich danach richten soll, was der Klassenfeind ausnutzen könnte. Ob meine Kritik nicht nützlich wäre für uns und die russischen Genossen. Lenin ist zwar ein sturer Bock, aber er ist ja nicht auf den Kopf gefallen. Er hört zu, und er würde sehr genau lesen, was ich schreibe. Vielleicht würde er schäumen, aber es würde in ihm arbeiten. Nur gibt es da eine Falle. Wenn man zum Terror greift, gerät man in einen Strudel der Gewalt. Man kommt da kaum heraus ohne Vernichtung der anderen kämpfenden Partei. Hat man den Terror einmal gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtet, muss man ihn fortsetzen, bis es keine Menschewiki und Sozialrevolutionäre mehr gibt. Jeder, der übrigbleibt, ist ein Zeuge der Anklage.«
»Jetzt bist du die Schwarzseherin«, sagte Jogiches. »Du setzt voraus, dass die russische Revolution scheitert.«
»Nein, ich meine nicht ein Gericht der Konterrevolution, sondern jeder Überlebende erinnert dich an die, die du getötet hast. Wenn töten richtig war, dann bleibt es richtig, muss es richtig bleiben. Man rechtfertigt mit dem Mord von heute den Mord von gestern.«
Zacharias verfolgte angespannt die Diskussion. Es geht um dich, auch wenn die beiden das nicht wissen. Wenn man anfängt, Leute umzubringen, dann muss man am Ende auch die umbringen, die sagen, es sei falsch gewesen. Ist das so?
»Und, was meinen Sie, Genosse Zacharias?« fragte Jogiches und fixierte Zacharias.
»Ich fürchte, im Bürgerkrieg hat man keine Wahl. Entweder man tötet die Feinde, oder die Feinde töten einen.«
Jogiches nickte bedächtig.
Rosa schaute Zacharias fragend an. »Vielleicht scheitert die russische Revolution daran, dass die Revolutionäre sie verteidigen müssen. Die Bolschewiki werden noch auf die Arbeiter und Soldaten schießen, mit denen sie die Revolution gemacht haben. Das ist die Endkonsequenz der Parteidiktatur, mögen die Führer noch so genial sein. Lenin saß bei mir zu Hause in der Lindenstraße in Südende auf dem Sofa, ich war gerade umgezogen und spielte mit Mimi. Wir haben uns gut unterhalten, damals ja auch, als ich aus der polnischen Gefangenschaft nach Finnland fuhr und du« – sie warf Jogiches einen traurigen Blick zu – »noch im Gefängnis warst. Er ist ja kein dummer Mensch, aber in seiner Verbohrtheit ist er zum Terroristen geworden. Vielleicht hätte die Revolution in Russland noch eine Chance, wenn die Bolschewiki den Kurs änderten, wenn sie linke Menschewiki mit ins Boot nähmen.«
Ihre Hand machte eine unsichere Bewegung, als wollte sie sich erst durch die Haare fahren, um es dann doch nicht zu tun. »Aber das sind Proben im leeren Konzertsaal. Sie können wohl nicht mehr anders. Und jetzt hoffen sie, dass wir den Karren aus dem Dreck ziehen. Hoffen? Nein, sie fordern. Lenin kennt nichts anderes als fordern. Und offenbar ist unser Freund Dserschinski Anhänger der Leninschen Methoden geworden. Sie fordern die deutsche Revolution, dass wir es ihnen nachmachen. Erst die Monarchie stürzen und dann Über gang zur Parteidiktatur, die sich sozialistisch nennt. A ber wir wollen hören, was der Genosse Zacharias uns zu berichten hat. Ich erinnere mich gut an Sie, Sie waren ein eifriger Schüler. Vielleicht ein bisschen schüchtern jenseits des theoretischen Streits.«
Zacharias hoffte, nicht rot zu werden. Was bewirkte, dass er sich klein fühlte, dabei war er doch der erfolgreiche Revolutionär, dem die Führer des ersten sozialistischen Staats vertrauten. Er dachte an seine Mission und wurde unruhig. »Die Hauptgefahr ist, dass die Revolution in Russland unterliegt. Dann gibt es eine noch blutigere Diktatur. Ich habe von dem Sozialismus, der in Russland herrscht, nicht geträumt. Schon gar nicht damals auf der Parteischule. Wir haben uns alle nach Harmonie gesehnt, nach Wohlstand, Gerechtigkeit, Kultur. Nichts davon gibt es in Russland. Aber ich glaube, aus dem Abgrund von Krieg und Terror wird etwas erwachsen, was dem ähnelt, das wir erträumt haben. Vielleicht erst in vielen Jahren.«
»Richtig,
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