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Das Luxemburg-Komplott

Das Luxemburg-Komplott

Titel: Das Luxemburg-Komplott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Ditfurth
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wie Gesandte der Zentrale ihre Aufträge eigenmächtig auslegten. Mitunter hatten sich die Bedingungen geändert, oder die Zentrale war von falschen Umständen ausgegangen, und da mussten die Emissäre die Lage vor Ort in Übereinstimmung bringen mit ihren Aufträgen. Je länger Zacharias darüber nachdachte, desto klarer schien ihm, dass Bronski seinen Auftrag missverstanden haben musste. Oder er war einfach durchgedreht. Vielleicht wollte er wie Radek eine Art Privatrechnung mit Rosa begleichen. Was es auch war, Bronskis Andeutungen passten nicht zu dem, was Lenin und Dserschinski Zacharias in Moskau gesagt hatten. Er holte sich die Gespräche in die Erinnerung zurück. Nein, unmöglich, Bronski war verrückt geworden. Jetzt, da die Revolution in Deutschland endlich in Schwung kam, jetzt sollte Moskau die bedeutendste Führerin dieser Revolution beseitigen wollen?
    Er hörte Schritte im Flur, dann öffnete sich die Tür. »Du hast mich vergessen«, sagte Margarete.
    »Nein, nein«, erwiderte er hastig. »Ich musste noch nachdenken über das, was mir mein Besucher gesagt hat.«
    »Man muss nicht Gedankenleserin sein, um zu erraten, dass es keine schönen Dinge waren.« Sie stellte sich hinter ihn und strich ihm über den Kopf. Es war wie früher.
    Er schloss die Augen. Dann überlegte er, ob er etwas sagen sollte. Sie war gekommen, ohne ihm zu erklären, warum. Vielleicht redete sie sich ein, dass es so weitergehen konnte, wie es früher war, wenn sie es nur wollten. Womöglich hoffte sie, etwas wiederzubeleben, das der Krieg getötet hatte. Ihm war es recht. Er wusste nicht, was er wollte. Ob er sie begehrte. Oder liebte. Tief in ihm saß ein Gefühl für sie, das er sich nicht erklären konnte.
    »Ich habe mich wirklich nicht melden können.«
    »Ja«, sagte sie. »Aber das ist jetzt egal. Es sind so viele tot oder verkrüppelt, da kommt es nicht darauf an.«
    Die Küchentür öffnete sich, die Mutter trat ein. Mit ihr drang kalte Luft in den Raum. Zacharias fröstelte. Die Mutter stutzte, schnaufte und begrüßte Margarete mit einem Nicken. Sie war grau im Gesicht, in ihren Augen war kein Leben. Sie setzte sich im Mantel an den Küchentisch und hustete leise. Dann fiel sie vom Stuhl und schlug hart auf dem Boden auf.
    Zacharias stürzte um den Tisch herum zu seiner Mutter. Er fasste sie am Kopf und sah, wie der Blutfleck im Haar sich weitete. Margarete stand starr hinter dem Stuhl, die Hand vor dem Mund.
    Zacharias suchte den Puls am Hals. Es gab keinen. Die Mutter lag regungslos, ein Speichelfaden zog sich vom Mundwinkel auf den Boden. Zacharias kniete neben ihr, der Unterleib verkrampfte sich. Die toten Augen der Mutter starrten ihn an, als machte sie ihm einen letzten Vorwurf. Er kniete lange auf dem kalten Fußboden und fühlte sich leer und wie gelähmt. Dann erschienen ihm Bilder seiner Mutter, als sie noch gut genährt und gesund gewesen war, damals, vor dem Krieg. Das machte es ihm noch schwerer zu glauben, was er sah. Die Bilder zeigten eine andere Frau als die, die da auf dem Boden lag und deren Blut langsam auf den Boden tropfte.
    Dann spürte er, wie Margarete sich neben ihn kniete. Sie schloss die Augenlider der Mutter. Nun, da sie ihn nicht mehr anstarrte, begann er zu begreifen, was geschehen war. Er erwartete die Trauer, aber sie kam nicht. Er fror innerlich.
    Margarete fasste ihn am Oberarm und zog ihn hoch. Sie setzte ihn auf den Stuhl und blieb neben ihm stehen. »Die Menschen fallen einfach um und sind tot. Versteh mich nicht falsch, aber manchmal denke ich, es ist besser so, und ich beneide sie. Sie haben es geschafft.«
    Ihm war es, als hörte er eine ferne Stimme. Warum sagte Margarete das? Er verstand die Worte, aber sie waren sinnlos für ihn. »Meine Mutter ist tot«, sagte er. »Aber ist das noch meine Mutter? Sie ist so anders geworden.«
    »Wir sind alle anders geworden, du auch. Vielleicht noch stärker als wir.«
    »Ich muss den Arzt holen für den Totenschein.«
    »Ja. Das kann ich ja tun. Bleib du hier.«
    Während sie den Arzt holte, saß er auf dem Stuhl und mühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Seit er zurückgekommen war, fühlte er sich, als stünde er neben den Dingen. Er erlebte Gefahren und hatte Glück, dass er nicht längst tot war. Aber mit einem Teil seines Ichs lebte er noch in Russland. Er hatte dort zu viel getötet, um sich nicht verbunden zu fühlen mit diesem Land. Ihn quälte die Not, nicht mehr frei entscheiden zu können, ob er die Bolschewiki unterstützen

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