Das Luxemburg-Komplott
sollte oder nicht. Sollte der Tag kommen, an dem er sich trotzdem gegen sie entscheiden musste, dann fesselten ihn seine Taten um so stärker an sie. Weil ein Teil seines Ichs im Osten geblieben war, fühlte er sich fremd in der Heimat. Haltlos, dachte er. So haltlos, dass ihn der Tod der Mutter nicht erreichte. Er saß lange und fühlte sich leer. Dann hörte er die Wohnungstür, Margarete hatte den Schlüssel mitgenommen. Er blickte nicht hoch, als Margarete hereinkam, begleitet von einem alten Mann, klein und knochig, mit einem krummen Rücken.
»Guten Tag, Sebastian«, sagte er.
»Guten Tag, Herr Dr. Samuelson«, erwiderte Zacharias mechanisch. So hatte er den Doktor vor dem Krieg begrüßt, als der ihn behandelte, wenn die Grippe kam.
»Mein Beileid«, sagte der Doktor, als er einen Blick auf die Mutter geworfen hatte. Er beugte sich hinunter zur Leiche, murmelte etwas vor sich hin, was vielleicht ein Fluch war auf eine Zeit, in der die Menschen starben wie die Fliegen.
»Deine Mutter war eine wunderbare Frau«, sagte der Doktor, und seine Stimme klang traurig. »Ich hätte es ihr und dir so gewünscht, dass wenigstens sie überlebt. Den Krieg, den Hunger und diese irrwitzige Revolution.«
Zacharias unterdrückte den Drang, etwas zu erwidern. Es war wie ein Mechanismus, der ausgelöst wurde, wenn ein bestimmter Reiz auftrat. Statt zu antworten, fragte er sich, ob er noch ein Mensch sei oder eine Maschine, wo er doch neben der Leiche seiner Mutter fast angesetzt hätte, mit dem Arzt, der die Leiche untersuchen musste, über die Revolution zu streiten.
Als Samuelson die Leiche untersucht hatte, stand er auf und setzte sich an den Tisch. »Ich schreibe Herzversagen, auch wenn es eigentlich eine Lüge ist. Ich müsste schreiben, ermordet vom Kaiser, der sein Volk in den Krieg trieb. Oder von Ludendorff und Hindenburg, die nicht genug bekommen konnten vom Schlachten. Aber der Kaiser ist nach Holland abgehauen, Hindenburg und Ludendorff sind Volkshelden, nach denen bald in jeder Stadt eine Straße benannt sein wird, und es würde sich kein Staatsanwalt finden, der dieses Verbrechen verfolgte. Und wenn der jemanden verfolgen würde, dann mich, weil ich die Kriegsschuldlüge unserer Feinde verbreite, um dem deutschen Volk den Rest seiner Wehrhaftigkeit zu rauben.«
Er unterschrieb das Formular und schob es Zacharias zu. »Es tut mir leid, mehr kann ich nicht für dich tun, Sebastian. Du bist jetzt allein, ich habe für deinen Vater und deine Schwester auch die Totenscheine ausgestellt. Ich kann verstehen, wenn du rebellierst gegen die Umstände, die ein solches Elend verursachen. Ich hab ja schon gehört, dass du in Russland zum Bolschewisten wurdest und hier ein großes Tier bist unter den Revolutionären. Aber alles Verständnis reicht nicht aus, denn ihr werdet nicht das Elend abschaffen, das die Menschen umwirft, sondern dem Elend neues Elend hinzufügen und mehr Menschen ins Unglück stürzen. Du wirst es mir nicht glauben, ich weiß. Aber nimm es als meine Prophezeiung neben deiner toten Mutter.«
Er stand auf und klopfte Zacharias auf die Schulter. Dann schüttelte er leicht den Kopf und ging grußlos.
Was für ein Tag war heute? Es fiel ihm nicht ein. Alles war ihm gleichgültig. Margarete sagte: »Komm, wir legen sie in ihr Bett, und morgen früh hole ich den Bestatter.« Er griff der Mutter unter die Arme, aber als wollte sie sich wehren, wog der ausgehungerte Körper schwer, so dass sie ihm fast aus den Händen geglitten wäre.
Als sie auf dem Bett lag, deckte Margarete sie zu, und fast schien es, als schliefe sie nur. Zacharias starrte sie noch eine Weile an, dann schloss er die Tür. »Lass uns rausgehen«, sagte er.
Draußen trieben spärliche Schneeflocken. Margarete hakte sich unter. Sie gehörten zusammen, das verstand er nun, auch wenn er seine Gefühle für sie nicht hätte beschreiben können. Da war nichts mehr von der Aufregung früherer Jahre.
Sie liefen langsam und ziellos durch die Straßen. Die Kälte hatte die Menschen in ihre Wohnungen getrieben. Einmal sahen sie fern eine Milizstreife, aber sie war das einzige, das daran erinnerte, dass die Parteien der Revolution die Macht erobert hatten.
»Was hast du vor?« fragte Margarete.
»Wegen Mutter?«
»Nein, in deinem Leben.«
»Darüber bestimme nicht ich.«
Sie schaute ihn neugierig und argwöhnisch von der Seite an. »Jeder bestimmt über sein Leben.«
»Bis er eine Entscheidung getroffen hat, die ihn auf ewig bindet, selbst
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