Das Luzifer Evangelium
Gott – Gott persönlich – es schaffen, alle Gebete anzuhören? Und warum sollte er sich darum kümmern? Hatte er den Menschen nicht einen freien Willen gegeben? Warum sollte Gott in das Elend des Daseins eingreifen, nur weil einige seiner jämmerlichen Geschöpfe die Hände falteten und ihn um Hilfe anflehten?
Gebete, dachte Giovanni, sind die Notrufe der Verzweifelten.
Und jetzt, dachte er, jetzt brauche ich Gott.
Er sah zu Luciana hinüber. Einen Moment lang überlegte er, ob er sie bitten sollte, mit ihm zu beten. Für Silvana. Aber der Gedanke erstarb gleich wieder. Luciana war nicht sonderlich religiös. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie noch jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Aber mit den Jahren war ihr der Glaube abhandengekommen. Auf jeden Fall die Glut. Wenn er sie jetzt bitten würde, mit ihm zu beten, würde sie ihn nur verständnislos anschauen. Dessen war er sich sicher. Sie wirkte so stark, obwohl sie geweint hatte. Als hätte sie all die Kraft in sich versammelt, die ihm fehlte. Ich will nicht, dass sie mich beten sieht, dachte er. Sie würde das für ein Zeichen von Schwäche halten. Von Erbärmlichkeit. Schließlich betete er sonst auch nicht, sondern wandte sich erst jetzt, in der Stunde der größten Verzweiflung, an Gott, um bei ihm Hilfe zu suchen. Wie pathetisch! Nein. Er wollte Luciana nicht einbeziehen. Er hatte genug mit seinem schlechten Gewissen zu kämpfen. Er wollte nicht, dass sie ihn sah, wenn er betete. Er ging auf die Toilette und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und sah sich selbst in dem ovalen Spiegel. Sein Gesicht war gelblich grau. Es erstaunte ihn, dass ihm plötzlich die Worte eines Gebetes einfielen, das seine Mutter ihn als Kind gelehrt hatte. Gott Vater, Sohn und Heil’ger Geist, hilf, dass mein Glaub dich preise … Ein Schluchzer entrang sich seiner Kehle. Er drehte den Wasserhahn an, damit Luciana sein Weinen nicht hörte.
… mein Fleisch dem Geist Gehorsam leiste, des Glaubens Frucht beweise … Er taumelte zur Toilette, fiel auf die Knie, klappte den Deckel herunter und legte die Ellenbogen darauf. Dann faltete er die Hände. Gott Vater, Sohn und Heil’ger Geist … lieber, lieber Gott … Ich weiß, ich habe nicht das Recht, dich um Hilfe zu bitten … Ich bin deiner Gnade nicht wert … aber erhöre mich, lieber Gott, Silvana zuliebe, lieber, lieber Gott, nicht für mich, sondern für Silvana … Sie ist doch noch ein Kind, ein unschuldiges Kind … Strafe nicht sie für meine Eitelkeit und meinen Stolz … Lasse meine Schwäche nicht auf Silvana abfärben … Lieber Gott, zeig Gnade für unsere kleine Silvana …
»Giovanni?«
Luciana stand in der Tür.
Er riss die verflochtenen Finger auseinander, als hätte sie ihn auf frischer Tat bei etwas Obszönem erwischt, blieb aber knien.
»Giovanni?«
Sie sah ihn entsetzt an.
»Ich … ich …«
»Was … was machst du da?«
Er erkannte ihre Stimme nicht wieder.
»Mir … mir ist plötzlich übel geworden.«
Irgendwo im Haus ging eine Toilettenspülung. Es rauschte in den Rohren.
»Ich musste … mich übergeben.«
»Betest du?«
Wasser lief durch die Rohre.
»Luciana, ich … ich …«
Er kam nicht weiter.
»Betest du, Giovanni?«
»Ja.«
»Zu Gott?«
Er sah sie an. Zu Gott? Was für eine Frage. Zu wem denn sonst? Mein Gott, was für eine dumme Frage. Verdammt, Luciana, was glaubst du denn, zu wem ich bete? Denkst du etwa, ich bete meine kleinen Teufelswesen an, um Silvana zu helfen? Dass ich die Heerschar von Geistern und Dämonen zu uns rufe? Er sagte nichts.
»Betest du zu Gott?«
Pause.
»Ja.«
Sie begann zu weinen.
Er rappelte sich auf und umarmte sie.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Luciana. Was ich tun soll!«
»Wir werden Silvana nie zurückbekommen, oder?«
»Natürlich bekommen wir sie zurück!«
»Deshalb betest du zu Gott. Du weißt, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren wird!«
Er wusste nicht, was er antworten sollte.
*
Als Giovanni in die Küche ging, um sich einen Kaffee zu kochen, saß Luciana am Küchentisch. Sie hielt einen großen Keramikbecher mit Tee in der Hand, trank aber nicht. Sie erwiderte weder seinen Blick, noch sagte sie etwas. Eine Fliege flog immer wieder gegen das Küchenfenster. Sie stand auf und ging mit ihrem Becher ins Wohnzimmer. Als der Kaffee fertig war, goss er sich eine Tasse ein und setzte sich auf den Platz, auf dem Luciana gesessen hatte. Die Sitzfläche war noch
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