Das Luzifer Evangelium
warm. Er tauchte einen Zuckerwürfel in den Kaffee und saugte ihn zwischen den Lippen aus. War es richtig, nicht die Polizei einzuschalten? Er dachte daran, wie befreiend es wäre, alles in die professionellen Hände von Menschen zu legen, die sich mit Entführungen auskannten. Die wussten, was man sagen durfte und was nicht. Welche Worte man Geiselnehmern gegenüber vermeiden musste und die erkannten, ob es sich um leere Drohungen handelte, mit denen die Täter nur Angst schürten, oder um todernste Botschaften. Er durfte nicht davon ausgehen, dass alles nur ein Bluff war, dafür war das Risiko viel zu groß. Es ging um Silvanas Leben! Hätten sie doch nur Geld gefordert! Dann wäre er jetzt ruhiger. Zu so einer Forderung konnte man sich irgendwie verhalten. Das war etwas Handfestes. Normale Verbrecher gingen immer den Weg des geringsten Widerstandes. Aber Silvanas Entführer schienen keine normalen Verbrecher zu sein. Sie wollten kein Geld. Sie hatten bislang gar keine Forderungen gestellt. Warum nicht? Worauf hatten sie es abgesehen? Konnte es tatsächlich um das Manuskript gehen? War es möglich, dass dieses alte Dokument so wertvoll war? Wohl kaum. Oder ging es nicht um das Manuskript selbst, sondern um seinen Inhalt? War es eine Art Schatzkarte? Ein Wegweiser zu einer religiösen Reliquie? Zum Leichnam Jesu oder dem Kreuz? Zum Heiligen Gral? Aber dafür war das Manuskript doch zu alt. Die Bundeslade? Sei kein Idiot, Giovanni!
Aber selbst wenn das Manuskript die Lage der Schatzkammer des Königs von Babylon beschrieben hätte, war wenig wahrscheinlich, dass der Text die Grabräuber auf direktem Weg mehrere tausend Jahre in die Vergangenheit führte. Mehrere tausend Jahre! Die Tatsache, dass Giovanni nicht verstand, auf was die Entführer es abgesehen hatten, machte sie in seinen Augen noch gefährlicher, noch unberechenbarer. Ginge es um Geld, hätten sie Silvana nicht entführt. Ging es aber tatsächlich um Luzifers Evangelium – ein praktisch unleserliches Dokument aus der Frühzeit –, was zum Henker wollten sie dann damit? Nicht einmal auf dem illegalen Sammlermarkt konnte der Wert so hoch sein, dass jemand dafür ein unschuldiges, zehnjähriges Mädchen entführte. Giovanni konnte keinen Zusammenhang erkennen. Trotz allem. Der Kaffee war so stark, dass er ihm im Hals brannte. Er musste aufstoßen. Es war bald sieben Uhr. Giovanni kippte den Rest des Kaffees ins Spülbecken und wusch seine Tasse mit warmem Wasser aus. Dann trat er ans Küchenfenster und öffnete es. Die Fliege verschwand. Der Sommer ist da, dachte er. Beugte er sich weit genug nach links und streckte den Kopf etwas aus dem Fenster, konnte er ein kleines Stückchen des Petersdoms sehen. Der Makler hatte darauf besonderes Gewicht gelegt, als sie den Kauf der Wohnung erwogen hatten. Giovanni hatte nie überprüft, ob es stimmte. Es war ihm auch egal. Manchmal, dachte er, ist es besser im Glauben zu leben, als mit der Wahrheit konfrontiert zu werden.
XVIII : Die Verfolger
ROM
10. JUNI 2009
1
Ein Auto – ein Allradfahrzeug mit getönten Scheiben – wartete am Tor an der Piazza di Santa Marta auf uns. Aldo Lombardi schob uns eilig auf den Rücksitz und ließ sich dann vorn neben den Fahrer fallen. »Schnell, schnell!«, rief er. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und setzte auf die Straße zurück, wo er hastig bremste, in den ersten Gang schaltete und auf der Via Aurelia beschleunigte. Ich wollte Aldo Lombardi fragen, was eigentlich los war, aber er presste die Hand auf sein Hörgerät und bat mich, leise zu sein. »Später, später«, sagte er immer wieder. Wir fuhren gleich über mehrere rote Ampeln durch Trastevere, bevor wir den Tiber parallel zur Bahnlinie überquerten und dann durch ein Netz enger Altstadtstraßen rasten.
»Werden wir verfolgt?«, rief ich. Weder Aldo noch der Fahrer antworteten. Meine Hände zitterten so stark, dass ich mich an der Kopfstütze vor mir festklammern musste. Monique starrte blass aus dem Fenster; sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen, die Tür verriegelt und eine Kommode unter die Klinke geschoben. Ich wagte nicht, auf den Tacho zu schauen. Wir donnerten über die Piazzale Ostiense, fuhren weiter über die Viale Aventino, passierten den Circus Maximus und kamen an der Rückseite des Kolosseums raus. Erst auf der Via dei Fori Imperiale ging der Fahrer etwas vom Gas.
Schließlich atmete ich tief durch. »Professor Lombardi? Was geht hier vor?«, fragte ich.
Er drehte sich um und sah mir in
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