Das Luzifer Evangelium
Krug über meinen rechten Unterarm und banden ihn mit einer Kordel am Ellenbogen fest. Dann spannten sie zwei weitere Bänder um mein Handgelenk. All meine Versuche, mich zur Wehr zu setzen, nützten nichts. Durch einen Schlitz im Krug konnten sie ein Messer einführen und mithilfe dreier Rädchen an der Außenseite des Kruges regulieren, wie straff die Bänder gespannt waren.
»Beltø, wir können das Ganze schnell und praktisch schmerzfrei hinter uns bringen. Oder aber die Qual auf viele Stunde ausdehnen. Ich frage Sie zum letzten Mal: Wo haben Sie das Manuskript versteckt?«
3
Mit der Zeit ist es wie mit dem Wein: Beides weiß man erst dann wirklich zu schätzen, wenn man nicht mehr viel davon hat.
Es passiert etwas mit einem, wenn man weiß, dass man sterben wird. Einige ziehen ein schnelles Ende vor, kein langes Leiden, kurzen Prozess.
Ich selbst klammerte mich ans Leben, solange es nur ging.
»Wenn ich sterbe«, jammerte ich, »ist das Manuskript für immer verloren!«
»Sie werden reden. Alle reden. Früher oder später reden alle.«
»Ich nicht!«
»Bjørn Beltø. Sie sind nur ein Mensch.«
Er nickte einem Mann zu, der aus dem Kreis trat. Als er näher kam, sah ich, dass er kaum über dreißig sein konnte. Seine Nase war außergewöhnlich groß. Er packte meinen linken Arm und drückte mir etwas in die Hand. Ein Amulett. Ein Bronzeamulett mit einem Pentagramm auf der einen und einer Triquetra auf der anderen Seite. Wie aus Reflex schloss ich meine Finger darum.
Der Mann, der sich Primus Pilus nannte, wiederholte das Gebet in einer Sprache, die ich nicht verstand: »N’kgna th ki’g Melek Taus r’jyarh fer’gryp’h-nza ke’ru phragn’glu.«
Die Männer stimmten wieder ihren monotonen Gesang an.
» O Salutaris Hostia quae caeli pandis ostium … «
Dann fielen sie auf die Knie und begannen zu beten.
Aus einem Holzschächtelchen nahm der Primus Pilus ein Skalpell mit einer gekrümmten Klinge.
Ich winselte.
»Mister Beltø?«, sagte er halb fragend, als wollte er sich versichern, dass ich bereit war.
»Nein, nicht!«
Er führte das Skalpell in einen der Schlitze im Krug.
»Nein!«, schrie ich. »Nicht!«
Ich spürte die scharfe Klinge auf der Haut.
»Neineineinein!«
Er hob den Kopf und sagte: »Ave, Satanas!«
ROM, MAI 1970
Giovanni ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, um die Abendnachrichten zu sehen. Er wusste nicht, ob er das aus alter Gewohnheit tat oder um die unerträgliche Stille zwischen Luciana und ihm zu durchbrechen. Sie hatte keinen Schluck von ihrem Tee getrunken. Im Fernsehen brachten sie eine Reportage über Thor Heyerdahl, der mit der Ra2 auf dem Weg über den Atlantik war. Giovanni bekam nicht mit, was der Norweger beweisen wollte. Dann folgte ein unverständlicher Beitrag über die stockenden Polizeiermittlungen bezüglich der Bombenanschläge in Rom und Mailand im vergangenen Jahr. Er schaltete ab, als sie über Politik zu reden begannen. Luciana saß still und reglos da. Er ging in sein Arbeitszimmer und blätterte ein paar Papiere durch, ohne sie zu lesen. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Luciana sich eine Zigarette angezündet.
»Du rauchst?«
Sie sah auf und stieß den Qualm aus. Seit über zehn Jahren hatte sie keine Zigarette mehr angefasst.
»Ich brauche das jetzt. Tut mir leid.«
»Im Wohnzimmer?«
»Jetzt nicht, Giovanni, jetzt nicht. Entschuldige bitte.«
»Und woher kommen die Zigaretten?«
»Vom Kiosk.«
Sie inhalierte, hielt den Rauch in den Lungen und schloss die Augen. Ihre Handtasche lag geöffnet auf dem Sofa. Sie hatte Zigaretten in ihrer Handtasche? Rauchte sie heimlich im Büro? Sie hatte sich aus dem Küchenschrank einen Aschenbecher geholt.
»Willst du etwas trinken?«, fragte er.
Sie atmete den Rauch durch Mund und Nase aus.
»Wein? Oder ein Glas Wasser?«
»Nein, danke.«
Mit der Zungenspitze befeuchtete sie ihre Lippen, bevor sie einen neuen Zug nahm.
Plötzlich sah er vor seinem inneren Auge ein Bild: Luciana in Enricos Bett, nackt, erschöpft von der Liebe. Lächelnd, halb schlafend in Enricos Arm. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen.
Deshalb hatte sie Zigaretten in ihrer Tasche. Natürlich! Für die Zigarette danach.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte sie.
»Oder ein bisschen Obst?«
»Nein, danke.«
Draußen auf dem Flur streckte sich Bella und winselte.
»Was ist, Giovanni?«
»Warum fragst du?«
»Warum kannst du es nicht einfach sagen?«
»Was sagen?«
Das Telefon klingelte.
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