Das Luzifer Evangelium
Informationen gegeben hatten, die sie für nötig erachteten. Als ich das Gebäude verließ, ertönte kein Alarm, keine Wachen hielten mich zurück. Ich glaube nicht einmal, dass mir jemand folgte, aber das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Als ich vor ein paar Jahren das isländische Manuskript Codex Snorri untersuchte, machte ich die Bekanntschaft von Tomaso Rosselini, einem Angestellten des Vatikanarchivs. Nach diesem Mann fragte ich, als ich zum Eingang kam. Ein paar Minuten später kam er nach draußen, um mich abzuholen. Nach der obligatorischen Eröffnung mit gespielter Wiedersehensfreude und herzlichem Händeschütteln erklärte ich ihm mein Anliegen. Er half mir, einen freien Platz zu finden, und kam dann mit einem Rollwagen voller Bücher, Abhandlungen und Dokumente zurück, die alle irgendwie mit den Drăculsângeern zu tun hatten.
In der Encyclopedia of World Religions and Sects habe ich gelesen, dass dieser Mönchsorden seinen Hauptsitz in den rumänischen Karpaten hat. Ihr Pendant zum Papst der römisch-katholischen Kirche, der Dominus, sitzt einem Rat von zwölf Bischöfen vor, die sich »die Ältesten« nennen. Heutzutage verwenden die Drăculsângeer römische militärische Titel. Wie Legatus, den Oberkommandierenden der Legionen, oder General. Die operativen Einheiten der Drăculsângeer werden Contubernium genannt, wie die acht bis zehn Mann starken Untergruppen des römischen Heeres, die jeweils in einem Zelt wohnten. Diese Gruppen werden angeführt vom Primus Pilus, dem ranghöchsten Centurio. Als ich die Stapel fast durchgeblättert hatte, hielt ich plötzlich eine maschinengeschriebene Notiz von Giovanni Nobile in Händen. Wie war dieser Zettel im Vatikanarchiv gelandet?
= Kurze Einführung zu den Dr˘aculsângeern =
Von Giovanni Nobile
Rom, Mai 1970
Der Ursprung der Sekte der Dr˘aculsângeer liegt im Nahen Osten und reicht zurück ins vierte Jahrhundert. Es handelt sich um eine Verschmelzung unterschiedlichster Religionsströmungen wie dem gnostischen, christlichen, manichäistischen und yezidischen Synchretismus. Auf die gleiche Weise wie die Drusen ihr Gedankengut aus verschiedenen Religionen und Philosophien bezogen, waren auch die Dr˘aculsângeer von verschiedenen Glaubensrichtungen beeinflusst. Die Sekte fasste in Zentraleuropa im sechsten Jahrhundert Fuß, verschwand dann aber nach und nach wieder aus der Geschichte. Es ist unbekannt, ob die Draculsângeer in den Untergrund gingen oder ihre Anhänger verloren. Im elften Jahrhundert tauchte die Sekte dann aber parallel mit den Katharern wieder auf und florierte im vierzehnten Jahrhundert besonders in den Regionen des heutigen Rumäniens, Ungarns und Russlands. Die Sekte betet Luzifer als ihre wichtigste Gottheit an, repräsentiert durch den Pfau Melek Taus. Die Sekte entsprang dem manichäistischen Glauben an ein Reich aus Licht und Harmonie – repräsentiert durch die Seele – und ein Reich aus Dunkelheit und Unfrieden – repräsentiert durch den Körper. Der Prophet der Manichäisten, Mani, lebte im zweiten Jahrhundert in Babylon und betrachtete sich als einen Nachfolger von Propheten wie Buddha, Zarathustra und Jesus.
Das Bild, das die Draculsângeer von Luzifer/Satan haben, ist weit komplexer als in modernen Teufelskulten wie zum Beispiel bei LaVey. Wie die Gnostiker und Katharer glauben die Dr˘aculsângeer, dass die Welt von einem Demiurg erschaffen wurde, einer auf einer unteren Stufe stehenden Gottheit. Aber während die Katharer und Gnostiker daran zweifeln, dass es sich bei diesem Demiurgen um Satan handelt, glauben die Dr˘aculsângeer, dass der Demiurg die dunkle, also böse Seite der Dreieinigkeit ist. Wohl bemerkt nicht der christlichen Dreieinigkeit. Ihr heiliges Symbol, die Triquetra, symbolisiert Gott, Satan und eine Kraft, die sie als costhul bezeichnen und die das Göttliche und das Satanische, die beiden Gegenpole des Universums, miteinander verbindet. Sie glauben, dass Gott und Satan ein Teil der Kraft costhul sind – und damit ein universelles Ganzes. Auf die gleiche Weise wie die Christen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist als Einheit und nicht als Dreiheit betrachten, beten die Dr˘aculsângeer Gott, Satan und costhul als gleichwertig an. Doch weil Juden, Christen und Muslime ausschließlich die göttlichen (hellen) Kräfte anbeten, versucht die Sekte, die Balance in ihrem costhulschen Universum aufrechtzuhalten und zu stärken, indem sie in erster Linie Satan und die dunklen Kräfte
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