Das mach' ich doch mit links: Roman (German Edition)
Freiübungen machen, und ging abends zeitig schlafen. »Meine Stromrechnung ist so niedrig, dass man mir schon zwei Mal einen Kontrolleur ins Haus geschickt hat.« Ein Fernsehgerät besaß sie nicht – »ein tüchtiger Spaziergang am Abend ist das beste Schlafmittel« –, im Radio hörte sie sich nur die Nachrichten an und den Landfunk, und sonst las sie Bücher. Die Biografien der namhaften Naturapostel und Ernährungswissenschaftler hatte sie bereits mehrmals durchgearbeitet, die von Pfarrer Kneipp und Gaylord Hauser kannte sie zum Teil schon auswendig, aber sie liebte auch Reisebeschreibungen und gab keine Ruhe, bis sie die in dem betreffenden Buch als besonders reizvoll geschilderte Landschaft mit eigenen Augen gesehen hatte. So war ihr einmal ein Bericht über Teneriffa in die Hände gefallen, in dem eine nächtliche Autofahrt über den Pico de Teide in das unberührte, zauberhafte Orotavo-Tal beschrieben wurde. Dabei hatte sie übersehen, dass das Buch in den fünfziger Jahren erschienen war. Ihr Versuch, die romantische Fahrt nachzuvollziehen, war zunächst daran gescheitert, jemanden zu finden, der diese halsbrecherische Tour im Dunkeln wagen wollte. Als sich Gertrud schließlich mit einer Tagestour einverstanden erklärt hatte, hatte sie feststellen müssen, dass auf den Teide inzwischen eine Seilbahn führte und aus dem idyllisch geschilderten Hafen Puerto de la Cruz eine Großstadt mit Hochhäusern geworden war.
Seitdem erkundete sie lieber Deutschland. Im vergangenen Herbst war sie auf Fontanes Spuren durch die Mark Brandenburg gezogen, leider mit einer sehr gemischten Reisegruppe, deren Teilnehmer sich mehr für das Essen als für die Landschaft begeistert hatten, aber für den diesjährigen Herbst hatte sie sich den Harz vorgenommen. Allein. Vor Jahrzehnten war sie mit ihrem nun schon so lange verstorbenen Gatten dort gewesen, Albert Winkelmann. Im- und Export, aber der hatte sich seinerzeit nur für die zum Verkauf stehende Sägemühle interessiert, aus deren Erwerb dann aber doch nichts geworden war. Vielleicht ganz gut so, die Bäume wurden ja immer weniger. Jedenfalls hatte Herr Winkelmann weiterhin Gewinn bringend im- und exportiert und nach dem dritten Herzinfarkt seine Gattin wohl versorgt zurückgelassen. Kinder hatten sie nicht, vom Geschäft hatte Gertrud keine Ahnung gehabt, es war verkauft und der Erlös im IOS-Investmentfonds angelegt worden. Den späteren Verlust hatte sie klaglos ertragen. Seitdem lebte sie von Alberts Privatvermögen. Übrigens nicht schlecht.
Für Florian bestanden gewisse Chancen, nach dem Ableben von Gertrud Winkelmann zu den Erbberechtigten zu gehören, auch wenn bei der eisernen Konstitution seiner Tante vorläufig nicht damit zu rechnen war. Sie war neunundsechzig und kerngesund.
Er fand sie im Bahnhofsrestaurant, wo sie Hagebuttentee trank und auf einem ungeschälten Apfel kaute. »Da bist du ja endlich, mein Junge!«
Der Junge täuschte Freude vor, umarmte seine Tante herzlich, verzichtete auf den angebotenen Tee und griff nach dem Koffer. »Wo hast du das restliche Gepäck?«
Tante Gertrud stand auf und legte die schon vorher abgezählten Münzen plus zehn Cent Trinkgeld auf den Tisch, nach kurzem Zögern auch den Rest vom Apfel – »er ist zu mehlig!« – und ging zur Tür. »Mehr habe ich nicht. Ich will ja nicht lange bleiben.«
Zufrieden stiefelte Florian hinterher. In diesem kleinen Koffer konnte bestenfalls die Garderobe für drei Tage Platz gefunden haben, selbst wenn man berücksichtigte, dass Tante Gertrud nur Baumwollkleider trug wegen der Luftzirkulation und feste Schnürschuhe mit Blockabsatz. Den Lodenumhang, unter dem ihre magere Gestalt etwas fülliger wirkte, kannte er schon seit Jahren, lediglich der dazu passende Hut war neu. Der alte, vor etwa zwanzig Jahren gekauft und immer noch tadellos in Form, war ihr unlängst bei einem Windstoß vom Kopf geflogen und von einem Lastwagen überrollt worden. Seitdem trug sie das Gummiband unter dem Kinn.
»Du siehst gut aus, mein lieber Fabian. Die ungesunde Stubenhockerblässe hast du fast vollkommen verloren.« Ohne zu murren war sie in den Kadett gestiegen, hatte vielmehr befriedigt festgestellt, dass ihr Neffe umweltbewusster geworden und einen kleineren Wagen gekauft hatte. »Hoffentlich mit Katalysator!«
»Ich bin Florian, Tante Gertrud, Fabian ist in Amerika, und sein Wagen steht zu Hause in der Garage. Das hier ist meiner.«
»Ach ja, richtig! Der Florian hatte mir ja vor seiner
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