Das mach' ich doch mit links: Roman (German Edition)
Nachwuchs.«
»Wieso Pflegemutter? Ist Gisela denn nicht da?«
Die Antwort wartete sie nicht mehr ab. Sie hatte Rüdiger entdeckt. »Du bist aber groß geworden, Urban. Und eine Brille trägst du jetzt auch? Sie steht dir gut, das muss ich schon sagen.«
»Ich bin der Rüdiger, Tante Gertrud«, verbesserte er lachend, »aber das macht nichts, bei so viel Verwandtschaft kommt man schon mal durcheinander. Wie war denn die Reise?«
»Sehr schön, mein lieber Junge, besonders die Fahrt an der Donau entlang.«
»Donau? Du meinst wohl den Rhein!«
»Ach ja, natürlich der Rhein, ich bin ja diesmal von oben gekommen.«
»Möchtest du dich erst ein bisschen frisch machen, oder wollen wir gleich frühstücken?«, fragte Tinchen höflich.
Tante Gertrud entschied sich fürs Frühstück. Doch, Knäckebrot sei leicht bekömmlich und daher empfehlenswert, am besten mit ein paar Gurkenscheiben drauf; auch der Tee war angenehm, morgen könne man ja Kathreiner besorgen, und überhaupt brauche man keine Rücksicht auf ihre Essgewohnheiten zu nehmen. Gemüse käme wohl ohnehin auf den Tisch, und wenn andere Fleisch äßen, störe sie das nicht im Geringsten. »Man muss die übrige Menschheit ja nicht zu seinen eigenen Anschauungen bekehren, nicht wahr, liebe Gisela?«
Die liebe Gisela nickte stumm. Es wäre wohl doch besser gewesen, wenn sie vor zwei Jahren zum siebzigsten Geburtstag ihres Schwiegervaters mit nach Tübingen gefahren wäre und schon bei dieser Gelegenheit Tante Gertrud kennen gelernt hätte. Vielleicht würde die alte Dame sie jetzt nicht dauernd verwechseln. Aber Tinchen hatte damals keine rechte Lust gehabt und Julias Erkältung vorgeschoben, um nicht mitkommen zu müssen.
»Guten Morgen, Tante Gertrud. Schön, dass du da bist. Übrigens siehst du blendend aus.« Mit einem Handkuss begrüßte Clemens seine Großtante. Die kicherte verschämt. »Lass doch diesen Unsinn, Junge, ich bin eine alte Frau.« Dann musterte sie ihn gründlich und schien befriedigt. »Aber du bist Urban, nicht wahr? Der Physikstudent.«
»Ich bin Clemens, der Medizinstudent, aber so ganz falsch liegst du gar nicht. Physik haben wir nämlich auch.« Dann warf er einen Blick auf den Tisch und einen zweiten auf Tinchen. »Gibt es heute kein Frühstück?«
»Aber jetzt kommt der Urban!« Tante Gertrud hatte Karsten erspäht, der hinter der halb zurückgezogenen Gardine erst einmal abwarten wollte, bis die Begrüßungsorgie vorbei sein würde. Nun war das Versteckspiel vorbei. Er trat auf die Terrasse und produzierte eine tadellose Verbeugung. »Guten Tag, gnädige Frau, ich freue mich, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Tante Gertrud stupste ihn schelmisch in die Seite. »Immer noch derselbe Witzbold wie früher! Aber nun komm und gib deiner alten Tante einen Kuss.«
Karsten zögerte. Erst die beschwörenden Blicke seiner Schwester brachten ihn dazu, Tante Gertrud einen Kuss auf die Stirn zu hauchen.
»Zier dich nicht so, mein Junge«, sagte sie, packte ihn bei den Ohren und küsste ihn herzhaft auf den Mund. »Was macht das Studium? Kennst du dich schon aus mit den Computern und Robotern und all dem anderen neumodischen Kram?«
Ihm dämmerte, dass hier irgendwas nicht stimmte. Deshalb nickte er nur, murmelte etwas von »Zigaretten vergessen« und gab Rüdiger ein Zeichen, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. »Sag mal, hat die’n Sockenschuss?«
»Sieht beinahe so aus«, sagte Rüdiger nachdenklich, »jedenfalls ist sie kalkmäßig ganz schön drauf.«
Worauf Karsten schleunigst seine Tasche holte und nach allen Seiten winkend zum Wagen lief. »Hab’ total verschwitzt, dass ich heute noch ins Geschäft muss. Die Bestellungen sollen morgen früh raus. Wiedersehn, Tinchen, grüß die anderen.« Er hörte aber doch noch, wie Tante Gertrud sagte: »Ein fleißiger Junge, dein Urban. Sogar am Sonntag denkt er nur an sein Studium.«
War schon Tante Klärchen dem Bender-Clan als Heimsuchung erschienen, so wurde der Besuch von Tante Gertrud zum Albtraum. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die wenigstens nur tatenlos herumgesessen und Whisky getrunken hatte, entwickelte Gertrud eine Aktivität, vor der selbst Tinchen kapitulierte. Es nützte nichts, wenn sie den Wecker stellte und morgens um sechs Uhr aufstand – Tante Gertrud war schon munter, hatte aus dem Garten Schnittlauch für den Quark geholt und ihre tägliche Ration Körner durch die eigens mitgebrachte Mühle gedreht. Lag Melanie, von Gertrud beharrlich mit Mechthild angeredet,
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