Das mach' ich doch mit links: Roman (German Edition)
einer Akademikerfamilie auszuwählen, denn Melanie würde natürlich einen Gegenbesuch machen, und da spielte die Herkunft des französischen Gastes eine nicht unerhebliche Rolle. So war sie denn auch ganz zufrieden gewesen, dass Mylène Baumiers Vater als Unternehmer bezeichnet wurde, der in einem eigenen Haus wohnte und aus dem Elsass stammte. Man konnte also erwarten, dass er und seine Familie die deutsche Sprache beherrschten, was spätere Verständigungsschwierigkeiten ausschloss. Die fehlenden Kenntnisse ihrer Tochter kannte Frau Bender nur zu gut.
Die Einladung nach Amerika sowie die Vorbereitungen hierfür hatten Gisela später so in Anspruch genommen, dass sie diesen Schüleraustausch vergessen und folglich auch unterlassen hatte, ihrer Schwägerin die nötigen Anweisungen zu geben. Dabei wäre Tinchen ja schon froh gewesen, wenn sie von der ganzen Aktion überhaupt etwas gewusst hätte. Entsprechend groß war ihr Entsetzen, als Melanie beiläufig am Mittagstisch erwähnte: »Nächsten Mittwoch kommt Mylène.«
»Wer kommt?«
»Meine Partnerin aus La Chapelle. Ist irgend so ein Kaff hundert Kilometer weg von Paris. Eine echte Pariserin wäre mir lieber gewesen, aber diese Schulen sind schon längst vergeben.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Tinchen.
»Ich auch nicht«, ergänzte Florian, der endlich wieder eine Möglichkeit sah, sich am Tischgespräch zu beteiligen. In der letzten Zeit hatte Tinchen jeden Versuch durch permanente Missachtung seiner Anwesenheit verhindert.
Gelangweilt erzählte Melanie vom Zustandekommen des Schüleraustauschs, wobei sie mehrmals darauf hinwies, dass sie nur auf Wunsch ihrer Mutter daran teilnahm und mit Grausen daran denke. »Irgendwie muss man die doch dauernd beschäftigen. Hoffentlich spielt sie Tennis. Vielleicht kocht sie ja auch gern?«
»Aber nicht in meiner Küche«, wehrte Martha erschrocken ab. »Und wenn du glaubst, dass ich jetzt französisch koche so mit Hors d’œuvres und Crêpes und dem ganzen anderen Pipifax, dann irrst du dich! Auf meine alten Tage lerne ich nicht mehr um.«
»Verlangt ja auch keiner. Die Franzosen kommen doch nach Deutschland, um deutsche Sitten und die deutsche Mentalität kennen zu lernen. Also sollen sie gefälligst auch Sauerkraut und Vollkornbrot essen.«
»Beides isst du doch selber nicht.«
»Eben! Schließlich kenne ich ja die deutsche Küche!«
»Über den Speisezettel zerbrechen wir uns später den Kopf«, entschied Tinchen, »mich interessiert jetzt viel mehr, um was für ein Mädchen es sich handelt, das uns da ins Haus schneit. Wie lange hast du denn schon Kontakt mit ihr?«
»Überhaupt noch nicht, wir haben doch erst heute die Adressen bekommen. Aber ein Foto war dabei.« Sie kramte in ihrer Schulmappe und förderte ein Passbild zu Tage. »Sie sieht ein bisschen unterentwickelt aus, nicht wahr?«
Mit Kennerblicken betrachtete Rüdiger das Foto. »Woher willst du das wissen? Der Busen ist doch gar nicht mit drauf.«
»Ich meine doch geistig, du Lüstling!« Sie riss ihm das Bild aus der Hand und gab es Tinchen. »Findest du nicht auch, dass sie reichlich beschränkt wirkt?«
»Eher schüchtern, würde ich sagen, aber Passbilder sind nie sehr vorteilhaft. Vielleicht ist es auch gar nicht neu. Wie sechzehn sieht sie nämlich nicht aus.« Nachdenklich betrachtete Tinchen das kindliche Gesicht mit den halblangen, glatt gescheitelten Haaren, die seitlich von einer einfachen Spange gehalten wurden.
»Spricht sie deutsch?«
»Das will ich doch stark hoffen. Im Übrigen ist sie ja hier, um ihr Deutsch aufzumöbeln. Wir sind strikt angewiesen worden, zu Hause nur Deutsch zu reden.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Tinchen erleichtert. »Außer Grazie und Arrivederci ist bei mir nicht mehr viel hängen geblieben.«
»Das war Italienisch«, bemerkte ihr Gatte freundlich.
»Wenn sie nicht bald kommen, könnt ihr den Rehrücken mit dem Löffel essen!« Schon zum dritten Mal erschien Martha mit anklagender Miene im Esszimmer, wo Tinchen letzte Hand an den festlich gedeckten Tisch legte. »Das Fleisch hätte schon vor einer halben Stunde aus dem Ofen gemusst.«
»Jeden Augenblick müssen sie da sein. Wahrscheinlich hat es auf dem Bahnhof noch eine offizielle Begrüßung gegeben, und bis dann jeder seinen Partner gefunden hat, vergeht auch einige Zeit. Soviel ich weiß, kommt eine ganze Busladung an.«
Der Weitertransport vom Heidelberger Hauptbahnhof nach Steinhausen war mal wieder an Florian hängen
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