Das Mädchen am Rio Paraíso
Mordverdacht stand. Vermutlich war er nur vorübergehend von der samtigen Nachtluft und dem Glimmen ihres Lagerfeuers in eine romantische Stimmung versetzt worden. Zum Glück – für sie beide – hatte er die Vernunft bewahrt. Was ihn nur noch anziehender machte. Verflucht.
Als sie in Porto Alegre ankamen, nahmen sie sich am Hafen eine Mietdroschke. Es war nicht leicht gewesen, einen Kutscher zu finden: Sie sahen abgerissen aus, waren schmutzig und trugen zerrissene Kleider. Schließlich überzeugten die Münzen, die Raúl einem Fahrer in die Hand drückte, diesen davon, dass die lange Fahrt vielleicht doch ein ganz gutes Geschäft war.
Als sie Raúls Haus erreichten, fanden sie eine völlig aufgelöste Teresa vor, die sie vor lauter Erleichterung, dass ihnen nichts Schlimmes widerfahren war, wüst beschimpfte. Nachdem die beiden Rückkehrer gebadet und gegessen hatten, gingen sie zu Bett. Beide schliefen durch, vom späten Nachmittag bis zum nächsten Morgen.
»Du brauchst nicht in der Küche zu essen«, begrüßte Raúl seine Reisegefährtin, als sie zum Frühstück nach unten kam. »Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, kannst du genauso gut hier mit mir im Speisezimmer frühstücken.«
Im Grunde sah Klara das genauso. Andererseits hatte sie sich in den Wochen ihres Aufenthaltes hier im Haus immer bei den Dienstboten aufgehalten. Es kam ihr merkwürdig vor, dies nun zu ändern und sich womöglich noch von Teresa oder Aninha bedienen zu lassen. Dennoch nahm sie Platz. Sie schenkte erst Raúl, dann sich selber eine Tasse Kaffee ein. Sie nahm sich Zucker und Milch dazu und war froh, die durch das Umrühren erzeugten Strudel in ihrem Getränk betrachten zu können. Da fiel es nicht weiter auf, dass sie Raúls Blicken auswich.
»E agora?«,
fragte er sie. »Und jetzt?«
Sie sah kurz auf, nur um sich wieder mit vorgetäuschter Konzentration ihrem Kaffee zu widmen.
»
Não sei
– ich weiß nicht.« Heim konnte sie vorerst nicht. Und hier würde Raúl sie sicher nicht behalten wollen. Nun, dann musste sie eben bei den Behörden – wenn nicht bei der Polizei, dann vielleicht bei der Einwanderungsbehörde – so viel Lärm veranstalten, dass man sie anhörte, sich ihrer annahm, sie irgendwo unterbrachte. Notfalls im Gefängnis. Die Vorstellung war scheußlich.
»Ich kann nicht bis Juni hier in der Stadt bleiben. Ich muss dringend nach Hause, auf meine
estância
in Santa Margarida«, sagte Raúl. »Es lässt sich beim besten Willen nicht länger aufschieben.«
Klara nickte traurig. Natürlich musste er das. Sie allein war schuld, wenn Raúl seinen Hof vernachlässigte und sich stattdessen in haarsträubende Abenteuer wie jenes im Urwald stürzte.
»Dass du mitkommst, mag ich dir erst gar nicht anbieten – du wirst ja bestimmt hierbleiben und dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern wollen.«
Endlich hörte Klara auf zu rühren und sah Raúl überrascht an. Hatte sie ihn richtig verstanden? Er wollte sie mitnehmen? Ja!, hätte sie am liebsten laut gerufen. Doch dann dachte sie an die große Entfernung, die zwischen Santa Margarida und São Leopoldo lag – laut Teresa dauerte allein die Fahrt von der
estância
nach Porto Alegre fünf Tage. Von dort aus wäre es noch komplizierter, nach Hause zu gelangen. Wann würde sie jemals wieder ihr Hildchen in die Arme schließen können? Nein, das ging nicht. Sobald der Fluss wieder befahrbar wäre, wollte sie zur Stelle sein und das erste Boot nehmen – bevor die typischen Regenfälle im Juli und August den Fluss erneut unpassierbar machten. Und nicht nur ihrer Tochter wegen. Was war mit Hannes’ Grab? Wo hatte man ihn bestattet? Kümmerte sich jemand um seine letzte Ruhestätte, oder zeugte nur ein schlichtes Holzkreuz von dem ersten Todesfall unter den neuen Einwanderern?
»Im Juni käme ich wieder zurück in die Stadt. Also wenn du willst …« Raúl wusste nicht, was in ihn gefahren war. Hatte er tatsächlich gerade angeboten, Klara mitzunehmen? Wieso zum Teufel überließ er sie nicht endlich sich selbst? Sie war wieder gesund, und sie war mittlerweile in der Lage, sich einigermaßen auf Portugiesisch zu verständigen. Sie konnte durchaus für sich selber sorgen. Er könnte ihr etwas Geld geben, damit sie die Kosten für Unterbringung, Essen und Bootsfahrt bestreiten konnte. Aber nein, er musste sich weiter als ihr Beschützer aufspielen. Und damit ritt er sich selber immer tiefer in Schwierigkeiten. Was den bürokratischen Teil
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