Das Mädchen am Rio Paraíso
Abtritt benutzt, nämlich den, der für die Schwarzen vorgesehen war. Sie war in die Küche gegangen, um sich etwas zu trinken zu holen, und war von den missmutigen Blicken der Küchensklaven verscheucht worden. Sie hatte sich Zutritt zur Bibliothek verschafft, weil sie sich langweilte und gerne etwas gelesen hätte, und war deswegen von Raúl heruntergeputzt worden. Kurz darauf entschuldigte er sich allerdings dafür.
»Es tut mir leid. Ich hätte mir denken können, dass du Beschäftigung suchst, und mit dir zusammen die Bibliothek aufsuchen sollen. Es ist nur …«
»
Mir
tut es leid«, unterbrach sie ihn. Sie wollte gar nicht hören, welche verqueren Gründe er hatte, so geheimniskrämerisch zu tun. Die Lust auf das Stöbern in den Regalen war ihr ohnehin vergangen – nur schwere Folianten hatte sie entdeckt und nichts, was auch nur annähernd nach einem Liebesroman oder einer Seeräubererzählung ausgesehen hätte. Außerdem war natürlich alles auf Portugiesisch, was vermutlich ihrem Spracherwerb zugute käme, dem Lesevergnügen jedoch abträglich war.
»Fühlst du dich einsam?«, fragte er unvermittelt.
Sie antwortete nicht sofort. Ja, natürlich tat sie das. Aber wollte sie ihm seine Gastfreundschaft mit Genörgel vergelten? Gewiss nicht. »Nein«, sagte sie also, doch es kam trotziger heraus, als sie beabsichtigt hatte.
»Sicher?«
»Sicher.« Herrgott, musste er auch noch nachhaken? Merkte er denn nicht, dass er sie in Verlegenheit brachte? In holprigem Portugiesisch, aber durchaus verständlich erklärte sie ihm, dass die Umgebung nur ungewohnt für sie sei und dass sie die ewige Bedienerei langsam satthabe. »Ich will arbeiten«, fügte sie hinzu und erntete ein belustigtes Grinsen. Was daran jetzt wohl wieder so komisch sein sollte?
Raúl war noch nie in seinem Leben einer weißen Frau begegnet, die von sich aus darauf beharrte, sich nützlich zu machen. Gewiss, es gab auch in Brasilien viele Kleinbauern, Handwerker oder Gewerbetreibende, bei denen die ganze Familie mit anpacken musste. Aber selbst die hatten immer noch wenigstens einen Sklaven, der für die echte Drecksarbeit zuständig war und den sie drangsalieren konnten. Ganz gleich, welche der ihm bekannten Frauen aus weniger wohlhabenden Kreisen er sich vorstellte – sei es die Schneiderin Isabel Campos, sei es die Frau des Hufschmieds, Mariana Silveira da Costa –, jede von ihnen würde sich als Gast in seinem Haus aufspielen wie die Kaiserin von China. Bescheidenheit war nicht weitverbreitet unter den portugiesischstämmigen Einwohnern Brasiliens. Allzu viel davon hielt er allerdings auch nicht für gut.
Warum ließ Klara es sich nicht einfach mal gutgehen? Warum genoss sie nicht die Ruhe vor dem Sturm, der sie unweigerlich erwartete, wenn sie zum Schauplatz des Unglücks zurückkehrte? Aber schön, wenn sie glaubte, eine sinnvolle Beschäftigung haben zu müssen, würde er als guter Gastgeber ihr auch die verschaffen.
»Willst du mit raus zu den Rindern? Ein paar Kühe haben gerade gekalbt, die Kälber würden dir gefallen. Sie sind noch ganz wacklig auf den Beinen.«
Was zum Teufel, dachte Klara, sollte sie bei den Kühen? Sie melken? Sie brandmarken? Diese Aufgaben würde man ihr ganz bestimmt nicht übertragen. Sollte sie ihnen beim Zermalmen von Gras zusehen? Außerdem war sie schon unzählige Male an den Stallungen vorbeigekommen und hatte sich, in Ermangelung einer anderen Beschäftigung, die Rinder angesehen. Starke, gesunde Tiere hatte er da. Und viele. Er musste sehr vermögend sein, wenn er allein hier schon so viel Vieh hatte. Der Großteil der Herde befand sich ja draußen, auf den Weiden.
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Soll ich Rodrigues bitten, dich das Reiten zu lehren? Er ist mein zuverlässigster
vaqueiro
und mein bester Lassowerfer. Vielleicht kann er dir das dann auch gleich beibringen.« Raúl schmunzelte bei dem Gedanken an eine Frau, die das
laço
warf. Das war nun wirklich eine rein männliche Angelegenheit.
Wider Erwarten erregte sein Vorschlag Klaras Interesse, und Raúl musste sich zusammennehmen, um nicht einen enervierten Seufzer von sich zu geben.
Klara jedoch hatte den Teil mit dem Lasso gar nicht verstanden. Sie begriff nur, dass vom Reiten die Rede war, und das würde sie gerne erlernen. Vielleicht könnte sie dann schon bald, immer vorausgesetzt, Raúl stellte ihr ein zahmes Pferd zur Verfügung, ein wenig die Gegend erkunden. Für Fußmärsche war die Landschaft zu weitläufig, und
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