Das Mädchen am Rio Paraíso
Pfarrer geduzt.
»Wenn jedoch auch nur ein Bruchteil der Schandtaten, deren Sie Ihren Mann bezichtigen, wahr sein sollte, dann darf ich Ihnen das Beispiel Hiobs nennen, der die ihm auferlegten Strafen …«
»Aber es sind nicht die Strafen Gottes, Herr Pfarrer, die ich fürchte, sondern die grausamen Prügel von meinem Mann!«
Dass ich ihn unterbrochen hatte, war der erste Fehler gewesen, dass ich behauptet hatte, die Strafe Gottes nicht zu fürchten, der zweite. Ich konnte den wachsenden Unmut des Pfarrers durch die Trennwand hindurch riechen. Er schien plötzlich keine Lust auf eine weitere Diskussion zu haben, auf Widerworte einer in seinen Augen ungehorsamen Ehefrau und Rabenmutter. Er trug mir eine unfassbar hohe Zahl an Gebeten auf, die ich zur Buße sprechen sollte, und riet mir zu weniger aufsässigem Verhalten. Sein abschließendes »Amen« erwiderte ich nicht mehr. Ich floh aus dem Beichtstuhl, der Kirche und dem Ort, als wäre der Teufel selber hinter mir her.
Auf dem Rückweg begegnete ich zufällig Friedhelm. Er war in die andere Richtung unterwegs, bot mir aber an, mich auf seinem Pferd heimzubringen. Ich war viel zu unglücklich und in Gedanken viel zu weit weg, als dass ich ihm dabei unlautere Absichten unterstellt hätte. Den ganzen Weg über dachte ich an nichts anderes als daran, dass ich nur noch meine Schwester hatte, der ich meine Misere schildern konnte und die mir glauben würde.
Doch dazu kam ich gar nicht. Der unfertige Brief lugte vorwurfsvoll aus der Bibel, wo ich ihn immer hinsteckte, damit er keine Flecken und Knicke bekam.
Ich sollte ihn nie zu Ende schreiben.
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44
K lara fragte sich, warum sie die Zeit in Santa Margarida nicht dazu genutzt hatte, ihrer Familie im Hunsrück zu schreiben. Da erlebte sie nun wirklich einmal etwas, das so viele Auswanderer sicher nicht erlebten, und dann behielt sie es einfach für sich. Sie hatte die Muße gehabt, sie hatte die Zeit gehabt, sie hatte das Schreibzeug gehabt. Sie hatte sogar ausnahmsweise etwas Schönes gehabt, wovon sie erzählen konnte, nicht immer nur Arbeit und Mühsal. Aber nicht einen Gedanken hatte sie in all diesen Wochen an Ahlweiler verschwendet. Nun ja, kaum einen jedenfalls.
Umso intensiver kehrten nun die Erinnerungen – und das schlechte Gewissen – zurück. Sie standen mit ihrem Wagen an dem Fähranleger in Porto Alegre, von dem aus die Boote nach São Leopoldo abgingen. Raúl hatte die Umsicht besessen, gar nicht erst sein Haus aufzusuchen. Dort wäre ihnen der Abschied noch schwerer gefallen. Sie waren, obwohl sie alle drei von der Reise erschöpft waren und nichts sehnlicher herbeiwünschten als ein schönes Bad und ein weiches Bett, schnurstracks zu der Anlegestelle gefahren. Joaninha traute sich nicht mehr, auch nur einen Mucks von sich zu geben, nachdem ihr bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie sich geäußert oder auch nur geräuspert hatte, Raúl über den Mund gefahren war. Raúl und Klara schwiegen ebenfalls, warfen einander jedoch vielsagende Blicke zu. Hier hatten sie vor kaum drei Monaten gestanden, waren dem betrügerischen Bootsmann aufgesessen und anschließend im Dschungel gestrandet, hatten einander besser kennengelernt, als es zwei Menschen in ihrer Situation zugestanden hätte.
Bald würden sie endgültig voneinander Abschied nehmen müssen. Raúl bestand darauf, Klara bis São Leopoldo zu begleiten, obwohl sie ihm versicherte, es sei in Ordnung, wenn er sie an der Fähre absetzte.
»Und dann passiert auf dem Boot wieder etwas Unvorhergesehenes? Oh nein, Klara. Ich komme mit. Erst wenn ich dich wohlbehalten abgeliefert habe, bist du mich los.«
Klara war gerührt über diese beschützende Haltung. Andererseits wollte sie wirklich nicht, dass er mitkam. Bis zum Anleger in São Leopoldo, na schön, von ihr aus. Aber nicht weiter. Sie wollte nicht, dass er sah, in welchen Verhältnissen sie lebte. Wenn sich während ihrer Abwesenheit die Dinge nicht grundlegend gebessert hatten, woran sie arge Zweifel hegte, dann wäre ihr Haus wahrhaftig nicht in dem Zustand, in dem man es Besuchern zeigen mochte. Da das Haus schätzungsweise unbewohnt war, es sei denn, neue Siedler hätten es bezogen, hätten mittlerweile die Vegetation des Urwaldes, das Ungeziefer sowie der Schimmelpilz von ihm Besitz ergriffen. Na ja, sagte Klara sich, dann sah man immerhin nicht mehr, wie sehr sie ihre Pflichten als Hausfrau vernachlässigt hatte. Sollte Raúl tatsächlich mit bis zu ihrer Parzelle kommen wollen,
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