Das Mädchen am Rio Paraíso
durch die milde Gabe eines alten Gepäckstückes.
Der Koffer war nicht schwer zu packen. Ich besaß ja nur drei Kleider, ein paar Röcke und Blusen, ein Paar Stiefel, meine Holzpantinen und etwas Leibwäsche. Alle diese Sachen waren alt, aber gut gepflegt. Meinen einzigen Mantel und den Hut würde ich während der Reise tragen, womit ich einiges an Platz für andere Dinge gewann. Ich packte mein Gesangbuch ein sowie die Porzellanfigur, die ich von Hannes geschenkt bekommen hatte. Ich betrachtete sie als eine Art Verlobungsgeschenk, und so knapp der Raum im Koffer auch war, auf keinen Fall würde ich dieses Stück zurücklassen. Meine älteste Schwester Ursula, die schon seit Jahren mit ihrer Familie in Ransfeld lebte, hatte mich mit einem Satz aus Kamm, versilbertem Handspiegel und Bürste beglückt – etwas so Kostbares hatte ich nie zuvor besessen, und ich würde es hüten wie einen Schatz. Auch diese Dinge quetschte ich noch in das Köfferchen. Und dann war es voll.
Die Habseligkeiten eines ganzen zwanzigjährigen Lebens.
Der Tag unserer Abfahrt aus Ahlweiler war sehr bewegend. Das ganze Dorf war zusammengekommen, um sich von uns zu verabschieden oder aber, was bei vielen Leuten wahrscheinlicher war, sich von dem großen Ereignis unterhalten zu lassen. Ich fühlte mich wie jemand vom Zirkus, der bestaunt wird, der teils voller Abscheu, teils voller Bewunderung angestiert wird. Hannes und ich waren
die
Sensation.
Mein Bruder Matthias – ja, plötzlich zeigte auch er so etwas wie Geschwisterliebe – hatte die Ochsen vor den Wagen gespannt. Er wollte uns nach Bacharach bringen, wo wir zunächst das Rheinschiff gen Köln nehmen würden. Mehr als wir drei Personen sowie unser Gepäck passte nicht auf den Wagen, so dass wir uns bereits hier von allen anderen Familienmitgliedern trennen mussten. Meine Leute waren vollständig versammelt. Vater hatten sie in einem selbst konstruierten Rollstuhl herbeigekarrt. Er sabberte, und Tränen liefen über seine Wangen. Es war unmöglich zu sagen, ob er begriff, was um ihn herum vor sich ging, und deshalb traurig war oder ob einfach nur seine Augen nässten. Ich küsste ihn, schluckte schwer und wendete mich dann den anderen zu. Da waren: Hildegard, Theo und ihre drei Kinder; mein Lieblingsbruder Lukas samt Frau und zwei Kindern; Johannes mit seiner Verlobten; meine drei ältesten Brüder Heinrich, Peter und Erich sowie deren Familien, zu denen ich nie viel Kontakt gehabt hatte, die mir jedoch, das fühlte ich auf einmal, ebenfalls sehr fehlen würden. Dann noch meine älteste Schwester mit Mann und fünf Kindern – Ursula, die, erkannte ich plötzlich, mit nicht einmal dreißig Jahren verhärmter aussah als die alte Agnes. Die war natürlich auch gekommen, genau wie meine ehemaligen Schulfreundinnen, ein paar Verehrer aus früheren Jahren, der Lehrer Friedrich, der nach wie vor die Kinder in Hollbach piesackte, der Pfarrer, der Chorleiter, der alte Ochsenbrücher und ausnahmslos alle Nachbarn und Bekannten der Familie. Von Hannes’ Seite waren es kaum weniger Leute, und so geriet das Ganze zum reinsten Volksaufstand.
Ich heulte ohne Unterlass, während Hannes sich fröhlich gab und schulterklopfend die Runde drehte. Ich wusste, dass seine Heiterkeit aufgesetzt war. Er war genauso aufgewühlt wie ich. Als wir aufsaßen, nahm er meine Hand und umklammerte sie so fest, dass es wehtat. Mit der jeweils anderen Hand winkten wir, bis uns die Arme lahm wurden und die Gesellschaft nur noch als trister, graubrauner Haufen wahrzunehmen war und man die einzelnen Gesichter nicht mehr ausmachen konnte. Aus der Entfernung musste die Dorfgemeinschaft sehr armselig wirken, noch dazu bei dem regnerischen Wetter. Doch mir erschien sie wie eine Festgesellschaft, von der ich mich gar nicht trennen mochte. Mir blutete das Herz.
Unterwegs sprachen wir kein Wort. Wir betrachteten andächtig die Landschaft, die wir nun für immer verlassen würden, die wir, möglicherweise leichtfertig, gegen eine neue Heimat eintauschten, von der wir nicht wussten, wie sie beschaffen war. Denn aufgrund unseres sehr eiligen Aufbruchs hatten wir es nicht mehr geschafft, die Leute in Rheinböllen zu besuchen, deren Verwandte bereits ausgewandert waren. Wir hatten nicht einen einzigen Augenzeugenbericht gehört oder gelesen und mussten uns auf das verlassen, was die Werber uns erzählt hatten.
Wir fuhren denselben Weg entlang, auf dem wir früher zu Fuß zur Schule gewandert waren – und erinnerten uns
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