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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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wehmütig an all die kleinen Streiche, die wir als Kinder ausgeheckt hatten. Wir passierten den Friedhof, auf dem ich wenige Tage zuvor am Grab meiner Mutter gebetet und um Beistand gefleht hatte. Ich schaute zur anderen Seite, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Dann rumpelten wir durch den Putzenfelder Forst. Hannes und ich sahen gleichzeitig zu dem Hochstand, dann trafen sich unsere Blicke, und wir lachten. War es wirklich erst ein Jahr her, dass wir dort oben unseren ersten, ebenso ungestümen wie ungeschickten Liebesakt vollzogen hatten?
    Ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Mit einem Mal löste sich ein Knoten, und all die über Monate angestauten Gefühle brachen in diesem Lachkrampf aus mir hervor. Die Ängste, die Hoffnungen, die Trauer, aber auch die Freude über das, was uns bevorstand – sie bahnten sich ihren Weg aus meinem Körper heraus. Ich hielt mir den Bauch, wischte mir die Augen trocken, holte zwischendurch Luft und nahm mir vor, mich zusammenzureißen. Nichts half. Nach kürzester Zeit ging es wieder los. Ich wurde derart geschüttelt, dass ich aufpassen musste, nicht in die Hose zu machen.
    »Du bist hysterisch«, stellte Hannes sehr richtig fest, worauf ich nur umso heftiger lachte. Er fand das gar nicht komisch.
    Erst als wir in eine Gegend kamen, in der ich nie zuvor gewesen war, also etwa ab Kisselbach, beruhigte ich mich wieder. Dort gab es nichts, was mich an die Vergangenheit erinnert hätte. Die Fahrt verlief fortan ohne weitere Zwischenfälle, und der Wagen kam gut durch, obwohl die Wege wegen des Regens aufgeweicht waren.
    Wir erreichten Bacharach am frühen Abend. Ein paar Sonnenstrahlen lugten durch die Lücken zwischen den Wolken und warfen ein romantisches Licht auf die hübschen Fachwerkhäuser und die glänzenden Pflastersteine.
    Ich war sprachlos. Eine so quirlige, wunderschöne Stadt hatte ich noch nie gesehen. Doch was mir dann endgültig den Atem raubte, war der Blick auf den Hafen und den Rhein. Was für ein Strom! Was für ein Betrieb! Was für herrliche Schiffe!
    Es kam mir auf einmal sehr seltsam vor, dass jemand wie ich, der richtige Segelschiffe nur von Abbildungen kannte – auf unseren Weihern und Bächen im Hunsrück sah man höchstens mal ein Ruderboot –, sich zu einer so außergewöhnlich langen Seereise aufmachte. Aber wahrscheinlich waren es gerade unsere Unerfahrenheit und Dummheit, die uns den Mut zu diesem Abenteuer eingaben. Das ganze Unterfangen erschien mir in diesem Augenblick wie der Gipfel an Vermessenheit. Wie konnten wir, Klärchen Liesenfeld und Hannes Wagner aus Ahlweiler, uns unterstehen, einfach nach Brasilien zu fahren?
    Ich ergriff Hannes’ Hand. Mir war mulmig zumute, und ich erhoffte mir von ihm Trost oder Zuspruch oder wenigstens ein Anzeichen dafür, dass ich mit meiner Furcht nicht allein war. Doch Hannes deutete die Geste anders. Er führte meine Hand zu seinen Lippen, küsste sie und sah mich freudestrahlend an.
    »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, fragte er. Es klang, als seien Bacharach und der Rhein sein persönlicher Besitz.
    Ich fühlte einen neuerlichen Lachanfall meinen Bauch heraufkrabbeln.
    »Ich muss mal«, sagte ich schnell, bevor ein Unglück passierte.
    Hannes bedachte mich mit einem konsternierten Blick. Dass ich in einem Moment, der für unsere Zukunft von so großer Bedeutung war, solche profanen Bedürfnisse verspürte, schien er zu missbilligen. Aber es nützte ja nichts.
    Er regte sich allerdings schnell wieder ab – und behelligte dann seinerseits mich mit seinen körperlichen Bedürfnissen, später, in der Nacht. Die verbrachten wir in einem billigen Gasthof, in einem Viererzimmer, zusammen mit Matthias, der erst am nächsten Morgen zurück nach Ahlweiler fahren wollte. Kaum hörten wir Matthias schnarchen, schlüpfte Hannes unter meine Decke. Es war das erste Mal, dass wir gemeinsam in einem Bett beieinanderlagen. Wir fühlten uns sehr erwachsen, wie Mann und Frau. Wir taten kein Auge zu in jener Nacht, was jedoch weniger an unserer Begierde lag als vielmehr an unserer Aufregung.
    Morgen würden wir den Hunsrück für immer hinter uns lassen.

[home]
17
    R aúl war spät dran. Er musste sich beeilen, wenn er es vor Ladenschluss noch zu dem Uhrmacher schaffen wollte, bei dem er die Reparatur der Taschenuhr in Auftrag gegeben hatte. Es handelte sich um ein sehr renommiertes Juweliergeschäft in der Rua Portugal, das mehr für seine exquisiten Geschmeide bekannt war als für seine

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