Das Mädchen am Rio Paraíso
Uhrmacherkunst, aber wenigstens wusste Raúl seine kostbare Taschenuhr dort in besten Händen.
Es gelang ihm knapp, den Laden noch rechtzeitig zu erreichen. Ein Angestellter war bereits dabei, die Gitter vor den Schaufenstern zu befestigen. Raúl nahm die drei Stufen zur Eingangstür in einem Schritt, drückte mit Schwung die Ladentür auf, die ihn mit einem klangvollen Bimmeln ankündigte, und warf einen letzten Blick zurück auf die Straße, um sich zu vergewissern, dass er in der Eile auch sein Pferd gut festgebunden hatte.
In diesem Augenblick sah er Josefinas offene Kutsche vorbeifahren, unverkennbar mit ihrem leuchtenden Rot und dem protzigen Wappen des Barão de Santa Maria das Luzes sowie dem neugierig gereckten Schwanenhals der schönen Tochter des Barons. Oje, das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass Josefina ihn wieder von seinen Pflichten abhielt. Schnell verdrückte er sich im Innern des Geschäftes und betete, dass sie ihn nicht gesehen hatte.
Als er seine Uhr in Empfang nahm, repariert, innen wie außen gesäubert und in ein vornehmes Etui aus Samt gebettet, bat er darum, sie noch sicherer einzupacken. »Ich weiß nicht, ob dieses Etui den Anblick, den das Innere meiner Satteltaschen bietet, verkraftet«, scherzte er, doch der Verkäufer sah ihn nur indigniert an und meinte: »Ganz wie Sie wünschen, Senhor. Würde es Ihnen, ich meine dem Etui, vielleicht helfen, wenn ich es noch in ein wenig Zeitungspapier wickle?«
»Ich bitte darum.«
Der Verkäufer ging, offensichtlich verärgert über die Verzögerung so kurz vor Geschäftsschluss, in ein rückwärtig gelegenes Büro und kam wenig später mit einem übertrieben großen Packen alter Zeitungen heraus. Er verpackte die Taschenuhr sehr umständlich, aber sicher und stoßfest.
Daheim angekommen, wickelte Raúl das Etui aus, nahm die Uhr heraus und befestigte sie wieder an der Kette. Er klappte den Deckel auf, bewunderte das feingearbeitete Ziffernblatt aus Perlmutt und verlor sich in Erinnerungen an seine Eltern, deren Gesichter er sich kaum mehr ins Gedächtnis rufen konnte. Er klappte die Uhr zu und verstaute sie in der Tasche seines Gehrocks, bevor er diesen auszog und über eine Stuhllehne hängte. Er befand sich in einer seltsam melancholischen Stimmung. Das hatte er selten. Und er würde ihr auch diesmal nicht nachgeben. Entschlossen ging er zu dem Silbertablett auf der Anrichte, auf dem seine kleine Auswahl an Spirituosen stand. Ein Whisky wäre jetzt genau das Richtige. Er gab eine doppelte Dosis in ein schweres Glas und ging mit diesem zurück an seinen Sekretär. Gedankenverloren strich er das Zeitungspapier glatt, das zu holen den Verkäufer so viel Mühe gekostet hatte.
Der Mann hat seine Berufung verfehlt, dachte Raúl, er hätte Beamter beim kaiserlichen Grundvermessungsamt werden sollen. Da hätte er es bestimmt nie mit Kunden zu tun, die eine Minute vor Ladenschluss die Unverschämtheit besaßen, darum zu bitten, eine sehr kostbare Uhr sicher zu verpacken. So etwas ärgerte Raúl. Vielleicht sollte er beim nächsten Mal, wenn er den Juwelier aufsuchte, ein Wort mit dem Besitzer des Geschäftes wechseln. Oder am besten direkt zu einem anderen Laden gehen – einem, wo man auch als Provinzler zuvorkommend bedient wurde.
Plötzlich blieb Raúls Blick an einem ungewöhnlichen Namen hängen, der in der Zeitung stand. Er hatte gar nicht darin gelesen – nichts war bekanntlich älter als die Zeitung von gestern, und diese war, Moment, vom 20 . März –, sondern einfach nur vor sich hin geglotzt. »Klara«, stand da. Klara mit K.
Gespannt beugte er sich über die Seite und las den Artikel.
Mysteriöses Verbrechen in der
Colônia Alemã de São Leopoldo
Wie der Redaktion des Jornal da Tarde erst am gestrigen Montag von offizieller Seite mitgeteilt wurde, ereignete sich in der vergangenen Woche ein ebenso schweres wie unerklärliches Verbrechen in der deutschen Kolonie von São Leopoldo, vormals bekannt als Colônia Alemã da Feitoria. Die Familie des deutschstämmigen Tischlers Hannes Wagner, seit Dezember 1824 in Brasilien sesshaft, wurde Opfer eines Überfalls, wie er in seiner Grausamkeit sowohl die Behörden als auch die Nachbarn der Wagners entsetzte.
Hannes Wagner, fünfundzwanzig Jahre alt, wurde mit eingeschlagenem Schädel im Dickicht des Urwaldes aufgefunden, der an sein Land grenzt. Der Mann starb, wie die Redaktion von dem Gendarmen João Francisco Pereira erfuhr, der zum Tatort gerufen worden war, an den Folgen
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