Das Mädchen am Rio Paraíso
das Mädchen wirklich seinem Befehl widersetzt hatte, dann würde er sie verkaufen. Sie wollte ohnehin weg, weil sie mit einem Feldarbeiter von der Fazenda São José angebändelt hatte. Von ihm aus konnte sie eher heute als morgen gehen – wenn der alte Geizkragen Fernando de Sousa e Silva ihm einen vernünftigen Preis zahlte. Da, dachte Raúl, schon wieder hatte er sich von dem eigentlichen Problem ablenken lassen. Aninha war vollkommen nebensächlich. Er musste mit Klara reden, und das bald. Er würde sie mit dem, was in der Zeitung stand, konfrontieren. Wenn er Glück hatte, würde er an ihrer Reaktion erkennen können, ob irgendetwas Wahres daran war. Wenn sie nicht grandios simulierte und ihre Amnesie echt war, dann würde womöglich durch die Geschichte, wie sie in dem Artikel beschrieben wurde, ihre Erinnerung geweckt werden. Vielleicht waren die Wagners von Indios überfallen worden, und vielleicht hatte Klara angesichts der durchlebten Schrecken ihr Heil im Vergessen gesucht.
Wenn sie jedoch eine Lügnerin war? Hätte sie nichts zu verbergen, wäre sie doch sicher längst heimgekehrt, oder etwa nicht? War sie eine kaltblütige Mörderin, die seine Gastfreundschaft ausnutzte, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen? In diesem Fall würde er persönlich sie an den Galgen bringen.
Nein, das konnte doch aber nicht sein. Doch nicht Klara. Vielleicht gab es ja noch eine dritte Möglichkeit, nämlich dass es sich um einen Unfall handelte, eine Verkettung unglücklicher Umstände, die zu Hannes’ Tod geführt hatten. Raúl konnte sich zwar nicht vorstellen, was für ein »Unfall« das gewesen sein sollte, bei dem man dem Ehemann mit der Hacke, dem Hammer oder der Schaufel eins über den Schädel zog, aber man konnte nie wissen. Es passierten die haarsträubendsten Geschichten.
Hm, dachte Raúl, diese Möglichkeit sollte er ausschließen. Denn dann hätte Klara doch als Erstes nach ihrer Genesung die Behörden aufgesucht, um den Vorfall zu melden. Es sei denn … verflixt, er drehte sich im Kreis.
Er musste mit Klara reden. Sofort.
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18
D er 21 . November 1824 war ein ausnehmend scheußlicher Tag. Wir befanden uns seit Wochen auf hoher See. Die Kanarischen Inseln lagen bereits hinter uns, seitdem hatten wir kein Land mehr gesehen. Der Kapitän behauptete zwar, wir befänden uns ganz in der Nähe einer anderen Inselgruppe, den Kapverden, aber davon war bei dem miserablen Wetter nichts zu sehen. Es stürmte und schüttete wie aus Kübeln. Das Meer war aufgepeitscht, meterhohe Wellen schwappten über die Reling. Die Seeleute an Bord fanden das nicht weiter schlimm. Dies sei nur ein Sturm von mittlerer Stärke, hieß es, und es bestünde keinerlei Gefahr für uns.
Ha! Bei mir bestand die akute Gefahr, dass ich mir die Seele aus dem Leib spuckte, und meinen Mitreisenden erging es nicht besser. Weil wir nicht nach oben ins Freie kommen durften – und ich es ohnehin nicht gewagt hätte, so wie das Schiff schwankte –, übergaben wir uns in unserem Zwischendeck. Es stank erbärmlich, und dazu kamen ja noch all die anderen Gerüche: der von unserem Nachtgeschirr, das wir wegen des Sturms nicht leeren konnten; der unserer nur notdürftig mit Salzwasser gewaschenen Leiber; der von verdorbenen Nahrungsmitteln; und schließlich der von Schimmel, der überall wucherte, weil alles klamm und die Belüftung nur unzureichend war. Es roch so ekelerregend, dass sich mir auch ohne die vermaledeite Seekrankheit der Magen umgedreht hätte.
Dieser Sturm war der bisherige Tiefpunkt einer Reise, bei der so ziemlich alles danebengegangen war, was danebengehen konnte. Ich hatte unsere Entscheidung, nach Brasilien auszuwandern, schon mehrfach verflucht. Wenn Hannes nicht gewesen wäre und mit seinem Optimismus immer dafür gesorgt hätte, dass wir nach vorn schauen und niemals zurück, ich glaube, ich hätte bereits in Köln die Rückreise angetreten. Dort nämlich passierte uns das erste Malheur.
Als wir über den Markt schlenderten, um uns mit weiterem Reiseproviant einzudecken – bereits auf dem Rheinschiff hatten wir von einem Matrosen erfahren, dass die Verproviantierung auf den Überseeschiffen mangelhaft war –, wurden wir bestohlen. Wir merkten es erst bei der Rückkehr in unsere verlauste Unterkunft, denn unser Abendbrot konnte Hannes, als er in seiner Hosentasche vergeblich nach Geld suchte, nicht bezahlen. Und unser Erspartes, das in einem Geheimfach in Hannes’ Reisesack eingenäht war, wollten wir
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