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Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Knauf, den jemand verloren haben musste. Wenn man ihn schwang, wirkte er ohne Zweifel bedrohlich. Ein Wink des Himmels! Er hob den Gehstock auf und schwenkte ihn über seinem Kopf. Seine Rechnung ging auf: Die Menge spritzte auseinander und ließ ihn passieren. Diether stob voran, als gäbe es kein Halten mehr. Zerschlagen und außer Atem erreichte er schließlich das Portal.
    Er hatte Wachen davor erwartet und sich schon eine Erklärung zurechtgelegt, doch zu seiner Verblüffung hinderte kein Mensch ihn daran, eine der schweren Flügeltüren aufzustemmen. Drinnen, im weiten Mittelschiff der Kirche, standen die Menschen noch dreimal dichter zusammengestopft als draußen auf dem Platz. Propst Nikolaus’ Stimme dröhnte ihm entgegen. Offenbar war die liturgische Einleitung schon vorüber, und die Predigt hatte begonnen.
    Etwas im Ton des Bernauers, das Näselnde, Herablassende, das selbst in schäumenden Wuttiraden erhalten blieb, war Diether zutiefst zuwider. Es erinnerte ihn an die Stimme seines Vaters, wenn der ihn beim Kragen gepackt und in die Höhe gezogen hatte, dass ihm das Ratschen des Hemdstoffs in den Ohren gellte. Weißt du, wie sehr du mich auch diesmal enttäuscht hast? Weißt du, wie ich mich schäme, einen Sohn zu haben, der nichts und wieder nichts taugt? Dann hatte er Diethers Körper, der zu schwach war, um sich zu wehren, über sein Knie gelegt und jedes Mal, wenn der Stock auf seinen Hintern niederpfiff, in dieser näselnden Stimme gekeift: Da hast du, da hast du!
    Schon die Hiebe allein hätte er dem Vater nie vergeben, doch diese näselnde Stimme hatte alles noch schlimmer gemacht. Diether war sich wie ein Nichts vorgekommen, wie ein Stück Dreck. Seine Hände verkrampften sich um den Knauf des Gehstocks. »Die Strafe wird über euch kommen, ihr Verblendeten!«, rief Propst Nikolaus über die Köpfe der Versammelten hinweg. » Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich , spricht der Herr, und über die Gottlosen, die wider ihn sind, wird Sein Richtspruch fürchterlich sein!«
    »Pass nur auf, dass Er nicht vorher dich richtet!«, rief jemand dazwischen. Diether richtete sich so hoch auf, wie er konnte, und entdeckte ganz vorn, nur ein paar Schritte vor dem prunkvollen Hochaltar, die Gruppe seiner Freunde, aus der der Ruf gekommen war.
    »Der Fürst der Hölle frohlockt!«, schrie Propst Nikolaus auf den Zwischenrufer nieder. »Eurer Seelen, Ihr Verderbten, ist er sich sicher! Gebt Ihr etwa den Anteil, der Eurer Mutter Kirche gebührt, pflichtbewusst ab, ein jeder nach seinem Verdienst, wie es geschrieben steht? Mitnichten! Zu den Huren tragt ihr ihn, in den Pfuhl der schändlichen Lust! Sodom und Gomorrha sind nichts gegen euer Sündenbabel, und wie jene wird das lasterhafte Berlin unter Feuer und Schwefel begraben werden!«
    Wie ein Donnergrollen schwoll das Murren der Menschenmenge an, wurde dichter, lauter, schien den Kopf des Propstes bedrohlich zu umschweben. »Feuer und Schwefel!«, schrie der Eiferer unbeirrt, »Feuer und Schwefel mit dem Gestank der Hölle!«
    Im Seitenschiff schrie eine Frau. Wieder stützte Diether sich auf den Stock, reckte sich in die Höhe und entdeckte die endlosen Reihen der Flüchtlinge. Wie ein Mahnmal standen sie dort in ihren grau verwaschenen Gewändern, drückten ihre Kinder an sich oder hielten sich aneinander fest. Das waren die Menschen, die der Papst und sein Jünger Nikolaus mit Feuer und Schwefel überrannt hatten – unschuldige Frauen, Mädchen wie Gretlin, gebrechliche Greise und Säuglinge!
    Diether hatte auf den passenden Augenblick warten wollen, auf einen Einfall, mit dem er beweisen konnte, wie gewitzt er war, doch jetzt war ihm alles einerlei. »Mörder!«, schrie er über die Menschenmenge hinweg dem Propst entgegen. »Dich sollte man mit Feuer und Schwefel heimsuchen, um die Menschen zu rächen, die du ermorden lässt!«
    Diethers Schreie aus dem hintersten Winkel der Kirche schienen die Menge zu entfesseln. Wie ein Mann stieß sie nach vorn, dem Feind entgegen, kesselte ihn regelrecht ein und wogte noch einen Schritt näher. Propst Nikolaus aber ließ sich dadurch nicht einschüchtern. »Jeder Einzelne von euch ist ein Sünder und Ketzer wie der Bayer Ludwig, den ihr euren Markgrafen nennt! Mitnichten ist dieser Mann euer Markgraf! Johannes der Zweiundzwanzigste, Heiliger Vater, Stellvertreter Gottes auf Erden, hat Herzog Rudolf ernannt und den Ketzer in Acht und Bann gelegt. Jeder, der dem Gotteslästerer Ludwig noch huldigt, statt die

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