Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Mitte zuzubewegen und sich bedrohlich um den verhassten Propst zu ballen.
Die Erregung, mit der die Kirche bis zum Bersten geladen schien, ergriff von Diether Besitz. Während der Predigt hatte er abgedrängt im Winkel stehen müssen, jetzt aber würde er einer der Ersten sein, die mit dem Propst ins Freie gelangten. Niemand wagte es, im Innern der Kirche Hand an den Vertreter Gottes zu legen. Schon deshalb mussten die Leute ihm schließlich den Durchgang erlauben, aber der Spalt, den sie ihm zwischen ihren Leibern ließen, war winzig. Arme, Schultern und Schenkel streiften wie zufällig seine Glieder oder stießen ihn zur Seite. Ein Fuß streckte sich, doch ehe der Propst zu Fall kam, zog er sich wieder zurück. Schimpfworte wurden gezischt, geflüstert, geraunt, bis das ganze Kirchenschiff vor unheilschwangerem Gemurmel widerhallte.
Propst Nikolaus aber schien sich seiner Stellung und seiner Unantastbarkeit vollkommen sicher. Unbeirrt, mit hochmütig gerecktem Haupt, schritt er dem Portal entgegen. Glaubte er, Gott würde seine schützende Hand über ihn halten? Glaubte er, die Stadtwache würde eingreifen, oder war er in seinem Größenwahn tatsächlich so verblendet, dass er annahm, kein Berliner würde dreist genug sein, ihn anzugreifen?
Jäh fühlte sich Diether von der Woge der ins Freie drängenden Menge erfasst. Taumelnd wurde er nach draußen geschwemmt, wo weitere Scharen den verhassten Kirchenmann erwarteten. Dunkles Buhen und Schimpfen aus Hunderten von Kehlen glich dem Grollen, das ein Gewitter ankündigte. Diether, dem der Kopf bis zum Platzen schmerzte, versuchte stehen zu bleiben und Atem zu schöpfen, doch die Leiber, die weiter vorwärts strebten, drängten ihn aus dem Weg.
Er blickte auf und fand sich Auge in Auge mit Nikolaus Cyriacus, der just aus dem Portal getreten sein musste. Gleich darauf traf den Propst der erste Fausthieb. Die Mitra, die er trug, weil er an kirchlicher Macht einem Bischof kaum nachstand, flog ihm vom Kopf und segelte in den Dreck auf dem Pflaster. Ein junger Bursche fischte sie auf und enteilte johlend damit durch die Menge. Einen Herzschlag lang sah Diether das Gesicht des Feindes. Es hatte jäh die Farbe verloren, wirkte jedoch eher überrascht als entsetzt. Diether schien es, als hielte die wütende Menge in der Bewegung inne. Als stünde die Zeit still, einen Atemzug lang.
Brachte niemand den Mut auf, dem Propst den nächsten Hieb zu versetzen, obwohl ihm jeder die Tracht Prügel gönnte?
Erwartete jeder von einem anderen, dass er zum Schlag ausholte?
Wie nah stand er selbst?
Nicht nah genug, um sein Gesicht zu treffen.
Der Schmerz in Diethers Schädel steigerte sich, und sein leerer Magen rebellierte. Er wandte sich zur Seite, versuchte Ausschau zu halten. Wo waren Petter und die anderen? Sahen sie ihm zu, wie er hier in kaum einer Armeslänge Entfernung dem gemeinsamen Feind gegenüberstand?
Der Propst setzte einen Schritt nach vorn. Mit dem nächsten Atemzug löste sich Diethers Starre, und ohne nachzudenken schlug er zu. Er hatte nie vor einer guten Prügelei den Schwanz eingekniffen, und ein paar Hiebe hatte der Widerling doch wahrhaft verdient! Seine Faust traf Nikolaus Cyriacus an der Schulter. Nicht fest, nicht einmal so, dass er ins Taumeln geriet. Ihre Blicke trafen sich. Die Augen des anderen waren grau, und verwundert stellte Diether fest, dass er kein großer oder kräftiger Mann war. Lediglich aufgeblasen hatte er sich, wenn er in seinem Altarraum Maulaffen feilhielt. Von allen Seiten stürmten auf einmal Männer an Diether vorbei. Schläge hallten, zwischen Wutgebrüll ertönte ein Schmerzensschrei.
Diether reckte sich auf die Zehenspitzen, was weder dem flauen Gefühl in seinem Magen noch dem Kopfschmerz abhalf. Zu viert oder fünft schlugen die Männer jetzt auf Propst Nikolaus ein. Die meisten schwangen ihre bloßen Fäuste, doch einer holte mit etwas anderem aus. Das war der Moment, in dem Diether bemerkte, dass er den Gehstock nicht mehr in Händen hielt. Er musste ihn im Getümmel verloren haben. Gebannt vor Entsetzen sah er, wie der Stock, am falschen Ende gepackt, durch die Luft wirbelte und mit einem dumpfen Laut auf dem Schädel des Propstes aufschlug.
Wo war die Stadtwache? Schafften es die Männer mit den Lanzen womöglich nicht, durch das Gewimmel bis auf den Platz vorzudringen?
Als er das Blut sah, das aus der Wunde sprudelte, drehte sich Diethers Magen um. Er wollte so etwas nie wieder sehen, einen Menschen, der in seinem
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