Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Lügen aus einer Schlinge zu winden, einer Strafe auszuweichen, als sei er der Angst vor dem Stock seines Vaters noch immer nicht entwachsen.
Entschlossen setzte er sich auf, schlang die Decke um sich und erzählte dem Fremden, was geschehen war: Angefangen von seiner Prahlerei in der Rippe, über den furchtbaren Streit mit Magda und dem Gelage mit Hans bis zu den Ereignissen auf dem Platz. Wichtige Eckpunkte fehlten ihm: Wo hatte er den Stock verloren, und was war geschehen, nachdem der Knauf den Propst ins Gesicht getroffen hatte? »Ich musste mich übergeben, ich war völlig fertig von dem Blut und von der verdammten Sauferei. Mir ist schwarz vor Augen geworden, und das Nächste, was ich mitbekommen habe, war, dass die Wachen mir die Arme verdrehten.«
»Sorgt Euch deswegen nicht«, sagte der Mann namens Thomas. »Dass Ihr nicht alles mitbekommen habt, war zu erwarten. Ihr habt Eure Sache ausgezeichnet gemacht.«
Diether glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Warum war der Fremde nicht entsetzt, warum wendete er sich nicht angewidert ab? »Bedeutet das, dass Ihr mir immer noch helfen wollt?«
»Ich kann nichts versprechen. Aber ich hoffe, dass Eure Geschichte zusammen mit einigen Beweisen überzeugen kann. Wenn Ihr einverstanden seid, werde ich alles, was Ihr mir erzählt habt, niederschreiben und jemandem zustellen, der über Einfluss verfügt und sich vor dem Rat Gehör verschaffen kann. Das bedeutet freilich, dass Eure Geschichte bekannt wird. Auch müssten wir die Leute, die für Euch aussagen können, aufsuchen – Hans, den Badeknecht, und Eure Verlobte Gretlin. Wollt Ihr mir dazu die Erlaubnis erteilen oder wollt Ihr diese Dinge vor Euren Freunden verborgen halten?«
»Nein, nein, nein!«, rief Diether. »Sie sollen alles wissen. Wenn ich könnte, ich würde es ihnen selbst erzählen.« Er würde Gretlins Liebe verlieren, und Hans würde ihn verachten. Magda und der Großvater würden sich seiner schämen, aber er würde endlich vor den Menschen, die er liebte, ohne Lüge stehen. Ohne Lüge. Die Erinnerung durchzuckte ihn wie eine glühende Klinge. Auf einmal wusste er, dass er das Geheimnis nicht länger bei sich behalten konnte, dass er es endlich jemandem anvertrauen musste. Nicht so wie bei Hans, wo er den entscheidenden Teil ausgelassen hatte, sondern in seiner ganzen nackten Unerträglichkeit.
Er blickte auf und dem Fremden in die Augen, in denen ein Mosaik aus braunen Kristallen funkelte. »Ich habe Euch nicht alles erzählt«, sagte er. »Es gibt etwas, das, wenn es herauskommt, all Eure Mühe zunichtemachen kann. Meine Vergangenheit.«
Der Fremde mit den warmen braunen Augen nickte. »Ich denke, das verstehe ich.«
»Wie könntet Ihr?«
»Ich habe auch eine.«
»Aber Ihr habt doch kein Verbrechen begangen!«
»Doch«, erwiderte der Fremde ruhig. »Ich habe grün und blau geprügelt in einer Zelle wie dieser gesessen und auf mein Urteil gewartet. Ich habe mich selbst und meine Familie entehrt und alles verloren, was mir bis dato etwas wert gewesen ist. Allerdings schwebte kein Todesurteil über mir. Nur Verstümmelung, Züchtigung und Verbannung aus der Stadt.«
»Und darf ich fragen, was …«, begann Diether und brach ab.
»Was ich getan habe?«
Diether nickte.
»Ein Mädchen geschändet. Ihr Gewalt angetan.«
Im ersten Augenblick wollte Diether aufspringen, den Kerl packen und hinauswerfen, als wäre dies hier sein Haus und er ein unbescholtener Mann. Für alles konnte er Verständnis aufbringen, aber nicht für ein Stück Dreck, das einer Frau angetan hatte, was Gretlin angetan worden war!
Gleich darauf sackte die Wut in sich zusammen. Der Mann hatte sich nicht gerührt und sah ihm unverwandt in die Augen. Diether blieb sitzen. Ich kann mir nicht helfen, dachte er, aber ich vertraue dir. Jäh wünschte er sich, der andere würde von ihm genauso denken: Etwas steckt dahinter. Etwas lässt sich erklären, und was immer du getan hast, ich bin sicher, du hattest einen verdammt guten Grund dafür.
»Darf ich Euch meine Geschichte erzählen?«, fragte er.
»Ich wäre froh«, sagte der Fremde.
»Dann wappnet Euch«, begann Diether und hielt sich an dem warmen Blick des Mannes fest. »Das, was heute geschehen ist, war nämlich nicht mein erster Mord.«
29
Magdas leeres, stilles Haus hatte sich in einen Hühnerstall verwandelt, der vom Gegacker widerhallte. Keine halbe Stunde nach dem Mädchen war auch noch ein junger Mann eingetroffen, der sich als Hans vorstellte und keuchte, als
Weitere Kostenlose Bücher