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Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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den Weg in das Loch angetreten, über eine eiserne Leiter, die geradewegs in die schwarze Tiefe führte. Allein die Ölfunzel, die dem Kerkermeister am Gelenk baumelte, spendete ein wenig Licht. Am liebsten hätte Diether sie in die Hände genommen und sich an ihrem Leben, ihrem Zucken gewärmt.
    Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war unbeschreiblich. Wieder würgte Diether, dessen Kehle bereits brannte wie eine offene Wunde. »Da rein«, sagte der Kerkermeister und entriegelte eine weitere Platte im Boden. Er sprach völlig ausdruckslos, frei von Hass, sondern so, als wäre Diethers Schicksal ihm vollkommen gleichgültig. »Kannst ruhig springen. Ist nicht so tief, dass du dir was brichst, und wenn’s so weit ist, zerschmettern die dir ja doch die Knochen.«
    Der stirbt auf dem Rad.
    Als kleiner Junge, in Bernau, hatte Diether einmal eine solche Hinrichtung mitansehen sollen und war schreiend davongelaufen. Was das Rad bedeutete, wusste er: Die Knechte des Blutvogts würden ihm die Knochen zerschmettern, damit sie seinen Leib um die Speichen flechten konnten, wo er über Stunden unter Höllenqualen starb. Seine Überreste würde niemand entfernen, sie würden verrotten und zum Himmel stinken, der ihm auf alle Zeit verwehrt war. Er würde Gretlin nicht wiedersehen. Er würde Magda und den Großvater nicht wiedersehen, Hans und Petter, die alle erfahren würden, dass er nicht nur ein Lügner und Zechpreller, sondern ein Mörder war. Und jetzt verlangte dieser Mann von ihm, dass er sich nicht sträubte, sondern in ein tiefschwarzes Loch sprang und darin verschwand? Entsetzen erfasste ihn. Sein Schrei klang schrill und vollkommen fremd.
    »Na mach schon. Oder muss ich dich stoßen?«
    Wie er es schaffte, sich doch noch in das Loch hinunterzuhangeln, wusste er nicht. Noch weniger, warum er an dem Schrecken nicht starb, als das Licht der Funzel verlosch und die steinerne Platte sich über ihm schloss. Er lag auf eiskaltem Boden, zwischen fauligen Halmen Stroh, die atemraubend nach menschlicher Notdurft stanken. Der Raum, der ihn umschloss, war kaum hoch genug, um sich aufzurichten, und nicht lang genug, um alle Glieder zu strecken. Er hatte kein Wasser, keine Decke, nicht das kleinste Stück Brot und keinen Funken Licht. Keine Hoffnung. Kein Recht. Keinen Menschen.
    Ich werde sterben.
    Jedes Mal, wenn der Gedanke in ihm aufwallte, sprang er auf die Knie, begann zu schreien und mit den Fäusten auf die Kerkerwände einzuhämmern, bis ihm die Kräfte erlahmten. Jemand musste ihn hören, jemand musste sich erbarmen und nur ein Wort zu ihm sprechen, ein Gebet, ein Lied, einen Menschenlaut zur Beruhigung! Aber niemand hörte ihn und niemand kam. Augenblicke, Stunden oder Tage vergingen. Von Zeit zu Zeit wünschte er sich Schlaf, doch dann erschreckte ihn die Angst davor, die Angst, in dieser Schwärze zu erwachen und noch einmal von Neuem zu begreifen, dass es keinen Ausweg gab. Der Durst tat ein Übriges, und über allem stand das Wissen um seine Schuld, das ihm das Herz in der Brust zerquetschte.
    Bei den ersten Geräuschen regte sich noch Hoffnung in ihm. Kam doch jemand, war das alles ein Irrtum, ein Albtraum, eine Fieberphantasie? Immer aber erwies sich die Hoffnung als trügerisch: Das Geräusch hatte er selbst durch eine Bewegung im Stroh verursacht, oder das Rascheln stammte von einer Ratte, die durch einen engen Spalt entwischte. Später achtete er nicht mehr auf die Geräusche. Sie kamen und gingen und änderten nichts an seiner Not.
    In den Stunden oder Tagen, die verstrichen, zog sein Leben an ihm vorbei. Alle Gabelungen, an denen er den falschen Weg eingeschlagen hatte, jede törichte Entscheidung, jede Verfehlung, die er mit einer Handbewegung abgetan hatte. Er hatte einen Unschuldigen eines teuflischen Verbrechens beschuldigt. Er hatte die, die er liebte, belogen und betrogen, er hatte mitangesehen, wie andere für seine Fehler bezahlten, so teuer, dass es keine Rückerstattung gab. In seinem jungen Leben, so stellte er fest, hatte er mehr gesündigt, mehr Schmerz zugefügt, als er jemals sühnen konnte. Und dabei war das Leben voller Schönheit gewesen, die er nur hätte greifen müssen. Greifen, festhalten, pflegen und teilen.
    Er liebte Musik, er hatte als Junge liebend gern auf seiner Flöte gespielt. Durch den Bach zu streifen oder durchs Schilf am Ufer und dabei ein Lied zu flöten, hatte ihn glücklich gemacht. Er liebte seine Familie, Magda besonders, die hingebungsvoll seinen Geschichten lauschte,

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