Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
ich wusste von nichts. Als es geschah, fiel ich aus allen Wolken. An einem Herbsttag, einem goldenen Morgen im Oktober, stürzte Gutman, mein engster Freund und Thomas’ Taufpate, in mein Haus und schrie mir bar jeder Fassung ins Gesicht: Sei gefasst, Clewin, wappne dein Herz! Oh, ewiger Herr des Himmels, gib diesem armen Mann deine Stärke. Ob mir nicht aufgefallen sei, dass mein Sohn des Nachts nicht heimgekommen sei, fragte er. Mir war nichts aufgefallen. Weshalb hätte ich meinem Sohn vorschreiben sollen, wo er seine Nächte verbrachte? Weil mein Sohn, so erzählte mir mein Freund Gutman, in den Nächten durchs Dunkel striche und Jungfern Gewalt antäte. Er hätte Afra von Quitzow Gewalt angetan, und die Stadtwachen hätten ihn im Morgengrauen in den Kerker geworfen. Wenn sie ihn leben ließen, wenn sie ihn nicht in der Zelle zu Tode prügelten, wie es Frauenschändern oft geschah, würde er öffentlich entmannt und aus der Stadt gejagt.
Ich hätte zu ihm gehen sollen, nicht wahr? Mit ihm sprechen, ihn vor Misshandlungen schützen müssen; das tun, was Ihr für Euren Bruder tut . Warum ich es nicht getan habe? Ich weiß es nicht, Magda. Wir hatten zu hoch, zu sorglos auf unserem Ross gesessen, und unser Fall kam zu jäh und zu tief. Ich war ihm nicht gewachsen. Tage- und nächtelang tat ich nichts, als zu hadern und den Himmel anzuschreien, er solle diese Last von mir nehmen, denn ich sei nicht fähig, sie zu tragen. Dass mein Sohn sie tragen musste, habe ich nicht bedacht. Ich wünschte mir nur eines: Dass die Sitzung des Gerichts unser Leben wieder ins Lot brächte, dass sich das Ganze als hanebüchener Irrtum erwies, der sich klären und vergessen ließ. Die Sitzung des Gerichts aber klärte nichts, und vergessen sollte ich sie nie.
Mein Sohn sah aus, wie man sich einen Verbrecher vorstellt: die Hände in Ketten, heruntergekommen, das Gesicht grün und blau von Schlägen. Die Leute rund um die Laube brachen in Buhrufe aus, als sie ihn brachten, sie bespuckten ihn und beschimpften ihn mit Worten, die ich nicht wiederholen kann. Einer der Richter schlug ihm über die Wange. Afra von Quitzow, die geschändete Jungfer, trage ein Balg im Leib, hielt er ihm vor, die Frucht einer Notzucht, und stamme die schändliche Leibesfrucht von ihm? Sag Nein, beschwor ich ihn stumm, einerlei ob Lüge oder Wahrheit, bring unser Leben ins Lot zurück und sag Nein. Mein Sohn sagte Ja. Sie bewarfen ihn mit dem Kot der Straßenköter, mit faulem Obst und mit Steinen. Der Richter ohrfeigte ihn von Neuem, wiederholte die Frage, und mein Sohn sagte noch einmal Ja.
Warum verteidigst du dich nicht?, hätte ich ihn anschreien wollen, warum fällt dir nicht ein einziges Wort ein, um all diesen Dreck von uns abzustreifen? Heute denke ich: Wie soll ein Mann sich verteidigen, den sein eigener Vater für fähig hält, einer Frau Gewalt anzutun? Mein Sohn war von dem, was wir ihm zutrauten, so erschüttert, dass er nicht einmal die Stimme heben konnte, um es von sich zu weisen. Vielleicht hat er es einen Herzschlag lang selbst geglaubt, vielleicht hat er gedacht: Wenn alle Welt es glaubt, muss es wohl wahr sein.
Er sagte kein Wort zu seiner Verteidigung und erhielt sein Urteil. Öffentlich entmannt sollte er werden, sodann mit vierzig Hieben gestäupt und schließlich mit weiteren Hieben ohne Zahl aus der Stadt gepeitscht.
Davon wachte ich auf. Den Gedanken, meinen Sohn, dessen Leib ich vom Tag seiner Geburt an umsorgt und behütet hatte, verstümmeln zu lassen, ertrug ich nicht, selbst wenn dieser Sohn ein Frauenschänder war. Am Tag vor der Vollstreckung flehte ich Freunde im Rat an, meinethalben die Züchtigung zu verschärfen, ihm die Entmannung jedoch zu ersparen. Das Volk sei aufgebracht, hielt man mir entgegen, die Quitzows, die ihre Knute über der gesamten Gegend schwangen, forderten äußerste Härte. Mich aber wollte man gleichfalls nicht verärgern, schließlich schuldeten die meisten dieser Leute mir Geld. Letzten Endes bot man mir an, die Entmannung zum Schein zu vollziehen, meinen Sohn zum Ausgleich aber so gnadenlos zu schlagen, dass er keine Frau mehr anrühren würde. Damit erklärte ich mich einverstanden.«
An diesem Punkt konnte Magda nicht länger an sich halten und sprang auf. »Ihr habt es gestattet?«, rief sie außer sich. »Ihr habt Euren Sohn entehren und wie den verkommensten Schurken züchtigen lassen, Ihr habt zugeschaut, wie er aus seiner Heimat hinausgeprügelt wurde, und habt vor der gesamten Stadt
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