Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
die furchtbare Last, die ihr die Schultern niederdrückte, an. Er war es, der ihr riet, mich aufzusuchen und mir zu erklären, was in Wahrheit geschehen war. Hilf diesem Vater, Afra, hat er gesagt. Ich werde ihm dafür immer dankbar sein.«
»Und was war in Wahrheit geschehen?«
»Das, was ich hätte wissen müssen. Das, was eben geschieht, wenn man zwei derart anziehende junge Menschen Tag für Tag miteinander allein lässt. Thomas verliebte sich in Afra, und Afra verliebte sich in Thomas, und ein volles Jahr lang gaben sie sich dem Glück ihrer Liebe hin und vergaßen die Welt. Dann bemerkte Afra, dass ihr Leib sich veränderte, und begriff, was es bedeutete. Sie mögen sich erschreckt haben, aber unglücklich machte es sie nicht. Thomas war ein Bürgerlicher, doch er entstammte einem Patrizierhaus, hatte in Paris und Bologna studiert und war der Erbe eines beträchtlichen Vermögens. Die Zeiten waren dabei, sich zu ändern, starre Grenzen begannen aufzuweichen, und Thomas zweifelte nicht daran, erhört zu werden, als er an jenem Abend bei Afras Vater vorsprach, um ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Conrat von Quitzow schrie, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, nach den Wachen. Das Untier habe seine Tochter geschändet, brüllte er, ließ seine Bewaffneten Thomas in die Stadt schleifen und in Ketten in den Kerker werfen.«
»Das alles hat Euch Afra erzählt?«
Clewin Alvensleben nickte.
»Und daraufhin habt Ihr Euren Sohn um Verzeihung gebeten – nachdem bewiesen war, dass er die furchtbare Strafe nicht verdient hatte.«
»Zu spät. Ich weiß. Ich hätte wissen müssen, dass Thomas zu einer solchen Tat nicht fähig ist. Kann es ein schändlicheres Verbrechen geben als Notzucht an einer Frau? Wie kann ein Vater so etwas von seinem Sohn glauben? Euer Bruder ist zu beneiden, und ich beneide und bewundere Euch. Ihn verdächtigt man des Mordes, vielleicht des einzigen Verbrechens, das noch schwerer wiegt. Ihr aber seid in Eurem Herzen sicher, dass Euer Bruder nicht der Mensch ist, der einem anderen das Leben raubt.«
Ein Blitz schien Magda durch den Schädel zu zucken und ihr für Augenblicke sämtliche Gedanken zu lähmen. Als sich die Schreckstarre löste, starrte sie auf ihre Hände, die den Kelch umklammerten. Sie zitterten so heftig, dass der Wein darin schwappte.
Clewin Alvensleben sah es auch. Er fasste nach ihrem Gelenk und löste ihr behutsam die Finger um den Kelch. »Ist Euch nicht wohl? Wollt Ihr Euch niederlegen?«
»Ich bitte Euch um Verzeihung«, flüsterte Magda. »Nicht Ihr wart hochmütig, sondern ich. Dass mein Bruder keinen Mord begangen hat – dessen bin ich mir nämlich nicht sicher. Nur dessen, dass es nicht der Propst von Bernau war, den er getötet hat.« Es war bodenlos töricht, dem fremden Mann dies anzuvertrauen. Was, wenn er sich jetzt entschied, dass er Diether nicht mehr helfen wollte? Eine Wahl hatte sie dennoch nicht. Sie stand auf. »Ich möchte jetzt gehen. Ich bitte noch einmal um Verzeihung und danke Euch, dass Ihr mir Eure Geschichte erzählt habt.«
»Ich hatte im Grunde kein Recht dazu, nicht wahr?«
»Nein, wohl nicht«, erwiderte Magda. »Ich bin dennoch froh, dass Ihr es getan habt, denn so bleibt es Eurem Sohn erspart, und trotzdem weiß ich es.«
»Ihr seid sicher, dass Ihr Euch stark genug für den Weg fühlt? Und dass Euer Bekannter auf Euch wartet?«
Sie nickte.
»Und unsere Verabredung für morgen – ist sie noch gültig?«
»Ich wäre froh«, sagte Magda. »Wir wohnen am Krögel, beim Olden Markt, das Haus von Seyfrid Harzer.«
Ehe Magda ging, gaben sie einander die Hand.
32
Es war gut, dass sie Petter bei sich hatte, dass es so viel zu berichten gab und dass sie auf diese Weise nicht zum Denken kam. Denken wollte sie nicht. Nur so schnell wie möglich Berlin erreichen, um ihren Plan auf den Weg zu bringen.
Petter war Feuer und Flamme: »Zeugen, die für Diether sprechen? Meine Gnädigste, ich bringe Euch nicht nur eine ganze Kneipe, ich bringe Euch eine ganze Stadt.«
»Die halbe genügt«, erwiderte Magda.
Nach einem Drittel der Strecke sagte er nicht mehr Gnädigste zu ihr, sondern Schwesterchen. Sie vereinbarten, dass er und Hans alle Freunde zusammentrommeln würden, die sich zu jener verhängnisvollen Stunde auf dem Neuen Markt aufgehalten hatten. Magda würde in der Zwischenzeit Lentz und den Großvater einweihen und mit ihnen nach weiteren Zeugen suchen. Brida fiel ihr ein. Hatte sie nicht erzählt, sie sei Diether am Morgen vor
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