Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Furcht aneinander, bewarfen ihr Gegenüber mit Schimpfworten oder zeterten gegen das Wetter, die Preissteigerungen und die übrige Welt. Manche verfluchten die ketzerischen Zeiten und andere den Papst und sein Geschwätz von Ketzern. Hier jubelte einer König Ludwig zu, dort forderte ein Geistlicher Gefolgschaft für Herzog Rudolf, hier rief eine Hure: »Heiße Lisbeth, bin nicht billig zu haben, biete schöne runde Beine!«, dort hielt ein Bäckerbursche dagegen: »Freiheit für Diether Harzer!« Dazwischen wurden Brezeln und Salzheringe verkauft, geschnitzte Pfeifen für die Kinder und warmes Bier, weil es schon wieder regnete.
Magda spähte über ihre Schulter, sah in ein bar jeder Ordnung wimmelndes Gewirr von Menschen und dachte: Ich habe diese Stadt lieb. Diese Stadt, die noch nicht recht weiß, was sie werden will, die aber tolldreist wie eine Erdkröte erst einmal den Kopf aus dem Morast steckt und versucht, sich ins Gespräch zu bringen. Utz hat uns hierher geholt, und er hatte Recht: Berlin passt zu uns. Wir könnten hier zu Hause sein, wenn Berlin uns lässt.
Aber heute hieß es: Diether oder Berlin. Wenn Diether verlor, würden sie Berlin dann noch ertragen? Und wenn Berlin verlor, würden die Leute den Harzers die Schuld daran geben und sie aus ihren Toren jagen?
»Da kommen sie! Da!« Der kleine Hans sprang in die Höhe, und als der große Petter dasselbe tat, war Magda die Sicht genommen. Nur einen verwischten Blick erhaschte sie auf den Zug der Ratsherren, der, geführt von einem Herold und geleitet von zwei Reihen von Stadtknechten, dem Portal des Rathauses entströmte. An dessen Front entlang bewegte sich die eindrucksvolle Prozession schnurstracks auf die Gerichtslaube zu. Neben dem Eingangsbogen, wo Bechtolt mit seiner Familie stand, entdeckte Magda den Pranger, der auch als Staupsäule diente, und ihr Herzschlag setzte aus. Über dem Schandpfahl war eine Skulptur angebracht, der Kaak, ein Vogel mit hämisch verzerrten menschlichen Zügen und den Ohren eines Esels. Die abscheuliche Fratze prangte dort, um die Verurteilten über den Schmerz hinaus mit Spott zu bewerfen, wie es Menschen ohne Ehre zukam.
Diether würde nicht in dem Zug geleitet, sondern von Knechten des Blutvogts zum Gericht gebracht werden. »Auf einem Karren«, hatte Thomas ihr versichert, aber Magda bekam die Erzählung seines Vaters nicht aus dem Sinn. Thomas war angekettet wie ein Verbrecher vor das Gericht von Spandau geführt worden, empfangen von Buhrufen und Schimpfworten, bespuckt und geohrfeigt, beworfen mit Kot und mit Steinen. In welchem Zustand würde Diether bei der Laube eintreffen, was würden die Menschen tun, wenn sie seiner ansichtig wurden?
Sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen. »Da kommt unser Diether!«, rief Alban, der Kürschner, sobald der Karren sich in schleppendem Tempo aus dem Gedränge schälte. Im selben Moment warf Petter das Gurkenfass auf den Boden und sprang hinauf. Mit ausladenden Gesten begann er die Menge ihrer Anhänger in einen ohrenbetäubenden Singsang zu leiten: »Die-ther, Die-ther, Die-ther!«
Magda konnte nichts mehr sehen und außer dem Diether-Gebrüll auch nichts mehr hören, aber das Gefühl war atemberaubend. Sie zog Gretlin, die sich neben sie geschoben hatte, noch dichter zu sich und grinste ihr zu. »Di-ta, Di-ta, Di-ta!« Was immer sie dir angetan haben, Brüderchen, dachte Magda, das hier dürfte so Manches wiedergutmachen.
Ein einziges Mal erspähte sie ihren Bruder, als er aus dem Karren gezerrt wurde. Die Knechte gingen nicht sanft mit ihm um, und soweit es sich überhaupt erkennen ließ, erschien er ihr dürr und bleich, doch ansonsten unversehrt. Sei noch ein bisschen tapfer, Kleiner. Wenn wir dich zu Hause haben, gibt’s dicke Erbsen, Kraut mit Speck und Bridas Blutwurst satt. Petter und seine Mannen brüllten aus weiten Kehlen: »Diether, Diether, Diether!« Etliche Passanten, die sich am Flussufer vorüberdrängten und gewiss keine Ahnung hatten, wer Diether war, stimmten ob der Wucht, die sie mitriss, ein.
Dann aber ertönte das Signal des Herolds, die Diether-Rufe verstummten, und die Verhandlung begann. Von hinten stürmten Leute nach und drängten Magda ab. »Hierher, Schwesterchen!« Petters langer Arm hangelte sich durch die Menge, erwischte ihre Hand und zog sie nach vorn. Ohne viel Federlesens packte er sie um die Hüften und stellte sie auf das Gurkenfass. Zum ersten Mal konnte sie nun in die Laube hineinsehen, in der ein Stab aus neunzehn Männern
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