Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Eingeständnis seiner Tat abzuzwingen, denn anders gibt es für seine Seele keine Rettung. Ebenso nötig ist es, einen Mörder zu bestrafen, um seine Seele zu reinigen, ehe sie in das Fegefeuer eingeht, um weiter zu sühnen.«
Was redete er da? In ihren Reihen herrschte Stille, die so dicht war, dass man sie hätte schneiden können. Petter hatte Gretlin auf seine Schultern gehoben, Hans stützte den Großvater, und nur Magda stand alleine auf dem Gurkenfass.
»Wer den Mord an Propst Nikolaus begangen hat, wissen wir!«, rief Thomas und erntete verblüfften Applaus von der Seite Bechtolts. »Wir haben Geständnisse ohne Zahl gehört: Frauen, die auf Propst Nikolaus schimpften, Männer, die ihre Freunde um sich scharten, um sich gegen ihn zusammenzurotten. Junge Leute, die sich nur einen Spaß machen wollten, Alte, die glaubten, eine Rechnung offenzuhaben, Männer die wie Diether Harzer mit der Faust zuschlugen, andere, die mit den Füßen traten, und allzu viele, die nicht begriffen, was sie taten, ehe es zu spät war. Die, die an jenem Morgen dabei waren, stehen auch heute hier um das Gericht, und wir alle denken uns: Wir können doch unmöglich Mörder sein! Rechtschaffene Leute wie wir hätten niemals den Tod eines Menschen gewollt, und ein jeder von uns hat doch nur ein klein wenig mitgetan.
Aber ein Mensch ist daran gestorben, und wir kommen nicht umhin, uns zu fragen: Herrschen wir oder herrscht die Tat? Bestrafen wir den Mörder, oder morden wir den nächsten, um die wahre Schuld zu vertuschen?«
»Wir bestrafen den Mörder!«, rief einer von Bechtolts Seite. »Diether Harzer aufs Rad!«
»Buh!«, schrie Petter, aber er fand kein Echo.
»Wir bestrafen also den Mörder«, sagte Thomas, und dann legte er den Kopf zurück und rief mit seiner kraftvollen Stimme über die Menge hinweg: »Der Mörder ist die Stadt Berlin, und ich denke, sie hat das Zeug dazu, für ihre Taten einzustehen. Unsere Stadt ist auf Brandenburger Sand gebaut und weiß, wie man sich an den Haaren aus dem Sumpf zieht. Verordnete Sündenböcke hat sie nicht nötig, und unter päpstlicher Strafandrohung duckt sie sich nicht. Wenn es ihr Ernst ist damit, dass sie in den Kreis der großen Städte dieses Reiches aufrücken will, dann bezahlt sie den Preis für ihre Tat aus eigener Tasche, so wie andere vor ihr. Das blühende Köln beispielsweise und die Bischofsstadt Mainz. Was denken wir? Kann unser Berlin Köln und Mainz das Wasser reichen?«
»Schwesterchen«, bettelte Petter neben ihr zum Gotterbarmen, »um allen Reichtum der Welt, bitte lass mich da rauf!«
Magda sprang vom Fass, und mit einem Satz war der Bäckermeister oben. »Ber-lin, Ber-lin!«, rief er und begann mit weiten Bewegungen die Menge in den Singsang zu leiten. Zuerst klangen die Stimmen noch ein wenig unsicher, doch im Handumdrehen pflanzte sich ihr Echo in alle Richtungen fort.
»Der Preis ist hoch«, sprach Thomas weiter. »Auf das Interdikt des Papstes folgt die Reichsacht, die dem Handel die Zufuhr abschneidet und den Fortschritt lähmt. Ich rede nichts schön, denn daran ist nichts Schönes. Dabei geht Lebenswerk zuschanden, und Menschen enden im Ruin. Ist unsere Stadt stark genug, eng zusammenzurücken und das Übel auszuhalten, ist sie wütend und trotzig genug, ihre Schuld dennoch von keinem anderen begleichen zu lassen?«
Du bist ja ein Prediger, dachte Magda zärtlich und begriff endgültig: Sie musste ihn gehen lassen. Wenn die Stadt Berlin ihr ihren Bruder zurückgab, musste sie ihr ihren Liebsten lassen, damit er ihr mit seiner Stärke und seiner Menschlichkeit zur Seite stand.
»Ber-lin, Ber-lin!«, skandierten Hunderte oder Tausende von Stimmen im Chor.
»Was ist mit dem Karfreitag, Pater?«, schrie eine Frau, lief zu Thomas hin und warf sich vor ihm auf die Knie. »Die Priester sagen, unsere ganze Welt wird ein Karfreitag sein, jedes Kreuz verhüllt, jede Glocke zum Schweigen verdammt, alle Gläubigen in Tränen, ohne das Licht einer Altarkerze, ohne den geringsten Trost!«
Thomas beugte sich hinunter und strich der Frau über die Wange. »Es wird hart sein«, sagte er. »Aber nicht ohne Trost. Die Franziskaner des Grauen Klosters sind ein Teil von Berlin, und wenn Berlin sich entschließt, sich diese Schuld auf die Schultern zu laden, werden wir unseren Teil daran tragen. Wir können nicht eure Geschäfte retten, und wir haben keinen Besitz, um eure Familien zu nähren. Aber wir werden hier sein, auf den Plätzen Berlins, um eure Kinder zu taufen,
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