Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
und der eines Tages versiegt war.
Erst als Thomas sich niederbeugte, um Utz an den Schultern in die Höhe zu reißen, erwachte sie aus ihrer Trance. »Thomas!«, rief sie ihn mit krächzender Stimme zurück. »Utz ist nicht dieser Mensch. Er ist mein Bruder!«
»Er wollte dich töten!«, rief er empört. »Ein Herzschlag später, und du wärst gestorben, weil ich ein solches Rindvieh war.«
»Nein«, sagte Magda. »Ich glaub nicht. Und du erspar mir dein Selbstmitleid, denn um dich geht es hier nicht. Auch nicht um mich oder die halbe Welt. Dieses eine Mal geht es um Utz.«
Getroffen senkte er den Kopf. »Verzeih.«
Unter Schmerzen setzte Magda sich auf, schob die Hand unter ihren Brustlatz und tastete nach dem Päckchen, das sie dort eingenäht hatte. Anfangs war es ihr schwergefallen, mit den Münzen auf der Brust umherzulaufen, doch im Trubel der Ereignisse hatte sie das Geld von Afra von Parstein fast vergessen. »Ich habe mich anders entschieden«, sagte sie zu Utz. »Du musst mit deiner Schuld fertig werden und wir mit der unseren. Ich gebe dir das Geld.«
»Hast du den Verstand verloren, Kälbchen?«, platzte der Großvater los.
»Du misch dich nicht ein«, verwies ihn Magda, ehe sie sich an Thomas wandte. »Binde ihn los«, sagte sie. »Hilf ihm, aus der Stadt zu kommen. Was danach geschieht, muss er selbst entscheiden, ich aber liefere meinen Bruder nicht aus, damit er auf dem Rad oder am Strick getötet wird.«
Keiner der Männer widersprach ihr. Thomas kniete nieder, um Utz aufzuhelfen und seine Fessel zu lösen. Sie hielten ihr beide den Rücken zugewandt, und erst als Magda sagte: »Hier ist das Geld«, drehte Utz sich um. Sein Blick suchte ihren, doch sie ertrug ihn nicht und wandte sich ab. »Geh«, flüsterte sie. »Nein, ich hab nicht gewusst, dass ich dir die Liebste war. Es tut mir leid, und ich wünsche dir, dass Gott dich nicht allein lässt.«
Thomas führte ihn von ihr fort. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Willst du, dass ich nachher zu dir zurückkomme?«, fragte er leise. »Es wäre ein Notfall. Tausendmal.«
Magda nickte. Bitte komm zurück und bleib die Nacht über hier, selbst wenn ich weder dich noch mich ertrage.
37
»Ich weiß, ich bin ein Schwatzmaul vor dem Herrn«, hatte Petter Tietz zerknirscht eingestanden. »Aber wenn man mir ein kleines Feuerchen unterm Hintern macht, dann halte ich mein Wort.«
Diesmal hatte er, um sein Wort zu halten, kein Feuerchen unterm Hintern gebraucht: Er hatte, wenn nicht die ganze, so gewiss die halbe Stadt zusammengebracht, um vor der Gerichtslaube für Diether zu kämpfen. Die Innung der Bäcker musste nahezu vollständig erschienen sein, und auch die Kürschner waren in beträchtlicher Zahl vertreten. Der griesgrämige Rippen- Wirt Caspar war ebenso zur Stelle wie der schmunzelnde Verräter Michel. Die Bäuerin Brida führte einen Tross von Marktweibern an und Hans vom Bader eine Schar Mädchen mit gelben Schultertüchern. Auf ihrer Seite standen Krämer vom Mühlendamm, Magdas Kunden, die ihre deftige Verwürztheit mochten, und etliche Leute jeden Standes, die sie nie gesehen hatte.
Den eindrucksvollsten Block aber bildeten die gleichförmigen Reihen der Brüder vom Grauen Kloster. Sie standen auf der Kreuzung zur Spandauer Straße, und obgleich keiner von ihnen eine Waffe trug, kam es Magda vor, als stünden sie dort als Wachen ihrer Stadt. War es je zuvor geschehen, dass diese Masse von graubraun gewandeten Männern geschlossen den Schutz ihrer Mauer verließ und hinaus auf die Straße zog? Sie zeigten damit, wohin sie gehörten. Sie waren ein Teil der Stadt.
Auf der anderen Seite sah Magda ganz vorn, vor der offenen Front der Gerichtslaube, Bechtolt stehen. Dort waren ihre Gegner versammelt. Bechtolts Verwandte und Freunde, Angehörige der Gilde und weitere Patrizier, die ihnen in der Zahl unterlegen sein mochten, sie an Einfluss aber spielend überboten. Vor allem aber reihten sich dort neben Propst Hubertus die ranghohen Kleriker aus Berlin und Bernau sowie die drei Bischöfe von Kamin, Verden und Ratzeburg, die Papst Johannes persönlich entsandt hatte, um den Mord an Propst Nikolaus zu untersuchen. Diese Männer vertraten die geistliche Macht des Reiches. Würden die Franziskaner des Grauen Klosters standhaft bleiben, wenn die höchsten Würdenträger ihrer Kirche ihnen den Kampf ansagten?
Die Verhandlung war noch einmal verschoben worden, um Nachricht aus Avignon abzuwarten. Ohne diesen Aufschub wäre der Brief,
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