Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
sein Bruder ihn in seinem Glück ohnehin nicht verstand. In diesem Augenblick aber wurde oben, im zweiten Stock des Hauses, der Laden des Fensters aufgestoßen, und das Gesicht seiner Schwester erschien.
Ein Blick in ihr Gesicht genügte. Der Schrei, den sie gleich darauf ausstieß, war nicht nötig. Utz’ Leid verblasste neben dem, das seinem Bruder bevorstand. Er packte Lentz bei der Schulter und stütze ihn, wie Lentz zuvor ihn hatte stützen wollen.
»Lentz, Lentz!«, rief Magda mit verzerrter Stimme. »Du musst kommen. Alheyt …«
Utz und Lentz rannten. Den Rest der Worte, die Magda hinunter auf die Straße rief, hörten sie nicht mehr.
6
Das Wetter war schwer und lichtlos, und das Leben war es auch. Dass Alheyt, die gesund und voll Zuversicht gewesen war, an der Geburt des Kindes, auf das sie sich so sehr gefreut hatte, gestorben war, ließ sich nicht begreifen. Alle Hoffnung aber war nicht mit ihr gestorben, denn noch lebte das Kind, ein kleiner Knabe, und um ihn lohnte sich der Kampf. »Genau so war es damals«, vertraute der Großvater, der vom Tod der Mutter nie zuvor gesprochen hatte, Magda an. »Meine Sanne lag tot in meinen Armen, aber das Wurm war ja noch da, ihr kleines Kälbchen. Damit uns das nicht zuschanden ging, mussten wir die Köpfe oben behalten, das waren wir der Sanne doch schuldig.«
Sie holten den Arzt, wie es die reichen Leute taten, sie kauften eine gläserne Flasche mit enger Tülle, aus der der Winzling saugen konnte, und dazu von einer Amme Milch, in die Magda, weil sie so dünn war, Rübensirup rührte. Sie kauften Rosenhonig, der ein Vermögen kostete, und rieben dem Kleinen damit die Mundhöhle aus. Die Kleider, die Lentz und Alheyt für ihr Kind zurechtgemacht hatten, waren weiß und fein wie für ein Fürstenkind. Magda ließ Utz wollene Decken dazukaufen, die das mutterlose Kindchen warm halten sollten. Sie hielt es von früh bis spät in den Armen, wiegte es und flößte ihm Tropfen von der Milch ein. Alle Lieder, die ihr einfielen, sang sie ihm vor, und als ihr keines mehr einfiel, dichtete sie selbst welche.
»Trink nur schön, bleib nur schön stark«, flüsterte sie ihm zu, wann immer sie weinen musste und Angst bekam, selbst nicht stark zu bleiben. »Wir beide schaffen es, wir halten dich im Leben. Für deine Mutter, Kleines. Und für deinen Vater, den Lentz, der sonst daran zerbricht.«
Lentz half ihr nicht. Es war, als sei Lentz mit Alheyt gestorben. Diether half ihr schon gar nicht, und Endres auch nicht, der hielt sich schüchtern und linkisch vom Leid der Familie fern. Zur Seite standen ihr der Großvater, der ihr wie eine emsige Pflegerin Getränke und Speisen brachte, und Utz, der unentwegt das Feuer schürte, damit es nicht herunterbrannte. Zudem besorgte er für das Kleine, was immer sie ihm auftrug. Beide Männer redeten auf Magda ein, sie müsse den Jungen einmal niederlegen und sich ausruhen, aber sie hatte Angst, ihn loszulassen.
Am meisten Angst hatte sie, sich schlafen zu legen. Solange sie nicht schlief, konnte sie auch nicht träumen, und solange sie nicht träumte, wie sie in der Nacht vor Alheyts Tod geträumt hatte, konnte das Kleine ihr nicht sterben. Es trank schlecht, bekam die gläserne Saugöffnung nicht richtig zwischen die Lippen, sodass die kostbare Milch ihm die Mundwinkel hinunterrann. Es schrie nicht wie andere Kinder, die Hunger litten, und von denen gab es in der Stadt in diesem Winter viele. Es wimmerte vor sich hin, stündlich leiser – wie ein Mäuslein, das die Katze erwischt hat und das langsam und unter Qualen verendet.
Aber das Kindlein konnte ja nicht verenden, denn Magda blieb standhaft und legte sich nicht schlafen. Sie döste wohl für ein paar Augenblicke mit dem Kind im Schoß ein, aber ehe ein Traum sie anspringen konnte, schreckte sie wieder auf. In der vierten Nacht wurde ihr so kalt, dass sie die Eiderdaunendecke, die aus Alheyts Mitgift stammte, über sich und das Kind zog, zusammen mit den wollenen Decken und ihrem Tuch. So saß sie mit dem Jungen, der schlafend in ihren Armen hing, auf dem Bett. »Erfrieren können wir nicht, mein Kleines. Und in der Frühe kommt Utz und schürt uns das Feuer, dann haben wir’s so mollig und behaglich wie der König oder der Papst.«
Utz kam in der Frühe und rüttelte sie behutsam wach. »Ich hole den Priester, Magda.«
»Du holst den Priester, Utz?« Magda schreckte aus einem Schlaf voll wirrer Bilder und musste lachen. »Aber du hasst doch die Priester wie der Teufel
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