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Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Nässe, die sich wie Bleigewichte um seine Wade schlang. Er streckte die Arme aus, fand keinen Halt und stürzte. Vor seinen Augen, in der Düsternis, verschwamm das Bild.
    Alsdann geschah alles so schnell, wie ein Herz zu schlagen aufhört, von einem Augenblick zum andern, ohne dass irgendeine Kraft der Welt es aufhalten kann. Jemand musste sich angeschlichen haben, musste, während sie sich in ihren Streit verbissen hatten, lautlos hinzugesprungen sein. Endres’ Laut der Überraschung war das Letzte, was Diether deutlich wahrnahm und zuordnen konnte.
    Später, als er mit aller Mühe und Verzweiflung versuchte, sich klar zu erinnern, bekam er nie mehr als Einzelheiten zusammen, zerrissene Fetzen, die kein Ganzes ergaben: Er sah das Messer aus seinem Gürtel gleiten, die Klinge, die in der Dunkelheit blitzte. Er hörte das dumpfe Platschen, mit dem ein Körper aufs Moor niederging, und wusste nicht, ob es sein eigener war. Dann hörte er Schreie, verschiedene Stimmen, von denen die seine am schrillsten gellte. Er erkannte ein Gesicht, schneeweiß in der Schwärze, kniff vor Entsetzen die Augen zu und schrie noch lauter, schrie und schrie, bis ihn die Kräfte verließen und ihm die Stimme brach.
    Möglicherweise hatte er einen Schlag abbekommen, seitlich gegen den Kopf, der ihm für Augenblicke das Bewusstsein raubte. Vielleicht hatte er sich aber auch nur an einem Stein gestoßen, oder der Schnaps war schuld an der Dunkelheit um ihn.
    Als er wieder zu sich kam, lag er auf seinen Knien, halb auf dem Weg, halb im Morast, starrte in seine Hände und sah dasselbe, was er damals gesehen hatte, über dem leblosen Leib seines Vaters: Schlamm und Blut, Schwarz und Rot, selbst im Dunkel noch glänzend. An seinen Knien spürte er wie damals den Körper und wich unwillkürlich zurück. Widerwillen packte ihn. Mit äußerster Anstrengung überwand er sich, streckte die Hand aus und tastete, ohne hinzusehen, nach dem Hals. Zitternd glitten seine Finger über den klaffenden, der Länge nach gesetzten Spalt und die klebrige Nässe. Weiter oben, an der Seite, fühlte er ein Stück heile Haut. Dort, wo das Leben hätte pochen müssen, war alles tot und still.
    Diethers Kehle war wund und aufgeraut vom Schreien, und als er um Hilfe rufen wollte, entrang sich ihr nicht mehr als ein Krächzen. Ohnehin hätte kein Mensch ihn gehört. Nur ein Nachtvogel kreischte. In der Finsternis auf dem Moor war Diether mit dem Toten allein.

ZWEITER TEIL
    Berlin, Brandenburg
Januar – Mai 1325
    »Wie konnte nur jemand auf die Idee kommen,
in all diesem Sand eine Stadt zu bauen?«
    Marie-Henry Beyle, alias Stendhal

10
    Der Vorraum besaß kein Fenster. Er war so klein, dass nicht mehr als drei Menschen nebeneinander darin Platz gefunden hätten. Gern hätte Thomas seiner Schwäche nachgegeben und sich zumindest einen Augenblick lang gegen eine der Wände gelehnt, doch er zwang sich, den Rücken zu straffen und aufrecht stehen zu bleiben. »Wartet ruhig ab und rührt Euch nicht«, hatte der Bruder, der im Torhaus Dienst versah, ihn angewiesen. »Wenn es an der Zeit ist, wird Pater Martinus Euch hereinrufen.«
    Die schneidend scharfe Antwort, die er dem Mann noch vor Wochen erteilt hätte, blieb Thomas in der Kehle stecken. Statt gegen die respektlose Behandlung aufzubegehren, senkte er den Kopf und fügte sich. Jetzt wartete er. Er hatte nie gelernt zu warten. Draußen lag kniehoch der Schnee, und in dem fensterlosen Raum war es beißend kalt, doch auch die Kälte gehörte zu den Dingen, die er wohl besser zu ertragen lernte, wenn er seinem Leben künftig gewachsen sein wollte.
    Wie lange er in der Enge stillstand, wusste er nicht. Schwindel erfasste ihn, sodass er den Arm nach der Wand strecken und nach Halt suchen musste. Selbstverachtung packte ihn. War er der Mann gewesen, der einen ungestümen andalusischen Hengst bezwungen und quer durch vier Länder heimgeritten hatte? Der Mann, der vor keinem Marsch zurückgeschreckt war, die Muskeln der Schenkel hart wie Eisen, die Straßen Europas als Erinnerung darin? Jetzt vermochte er nicht einmal mehr, auf seinen eigenen Beinen zu stehen. An seinen Schläfen hämmerte das Blut wie mit Spitzhacken, sein Magen schien sich um sich selbst zu drehen, und in den Schultern rührte sich der inzwischen vertraute, verhasste Schmerz. Was für ein Bild gab er ab? Eine Jammergestalt!
    Er hatte einen Ruf erwartet, der ihm gestattete, die niedrige Tür aufzuschieben und sich unter der Zarge hindurch in den Raum zu

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