Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
die Tore zu öffnen, so schwer das Gewicht Ihres Fehlens auch auf ihnen lasten mag.«
Damit war es besiegelt. Kein kanonisches Gericht. Er würde aussprechen müssen, was ihn hierhertrieb, und daraufhin würde der grau gewandete Mönch ihm die Tür weisen, wie ihm jeder Mann von Ehre die Tür gewiesen hätte. Nur ein Ausweg blieb ihm: Als Lügner war er nutzlos, doch er konnte die Wahrheit verschweigen und darauf hoffen, dass seine Kleidung täuschte. Der Pater würde auf das tiefe Blau seines Surcots sehen, weder auf seinen Schädel noch in sein Herz und auf den Rücken ohnehin nicht. Zudem besaßen die Brüder der Bettelorden zumeist wenig Kenntnis von dem, was an den brodelnden Gerüchtekesseln der Städte die Runde machte. Er würde schweigen und vielleicht doch Aufnahme finden. Ein Schlupfloch, in dem er sich auf alle Zeit verbergen konnte, den Rest des Lebens überstehen, ohne je wieder einem Menschen in die Augen sehen oder seine Berührung ertragen zu müssen.
»Ihr seid ein stolzer Mann, habe ich Recht?«, schnitt der Pater in seine Gedanken. »Ich will ehrlich sein: Nach all der Zeit wieder einmal einen stolzen Mann zu Gesicht zu bekommen, ist alles andere als unerfreulich. Seid Ihr Euch aber bewusst darüber, dass Euer Stolz hier harte Schläge wird einstecken müssen? Denn nicht Stolz, sondern Demut ist, die unser Leben erfordert. Wisst Ihr, dass Ihr Euch von Almosen ernähren werdet, die Ihr Euch demütig erbetteln müsst?«
Die Last, über das Eine, Entscheidende schweigen zu müssen, verschloss Thomas auch jetzt die Lippen. In seinem Rücken spürte er jeden einzelnen Muskel, der sich verhärtete und zusammenzog.
»Dieses Mal dränge ich auf Antwort, mein Herr. Ihr erscheint mir beileibe nicht wie jemand, der die Fähigkeit zur Demut besitzt.«
»Ist die Demut eine derart mysteriöse Kunst, dass ein schlichter Mann sie nicht erlernen kann?«, fauchte Thomas zurück.
Der Pater sah ihm in die Augen. Thomas wollte seinem Blick ausweichen, doch er hielt den seinen fest. »Was ein schlichter Mann kann, tut hier wohl wenig zur Sache«, sagte er. »Die Frage ist: Könnt Ihr es?«
Die Augen des anderen waren rund, wasserblau und wimpernlos. Thomas glaubte, sich selbst darin gespiegelt zu sehen. Nicht nur seine immerhin glatt rasierten Wangen und seine noch immer manierliche Kleidung, sondern auch das Schwarze, Widerwärtige, das darunter lag. Er hatte verloren. Alles, was er noch tun konnte, war, die Flucht nach vorn anzutreten, statt Schande mit Feigheit zu krönen. Noch einmal sammelte er seine Kräfte, um aufrecht stehen zu bleiben. »Ich bin von keinem kanonischen Gericht verurteilt worden«, sagte er. »Aber von einem weltlichen. Von der höheren Halsgerichtsbarkeit.« Dann holte er Atem. Dort, in der verschneiten Straße, auf die der Pater ihn stoßen würde, mochte er heute Nacht vielleicht sterben. Sein wildes, gieriges Festhalten am Leben hatte ihn seit Wochen gewundert, doch jetzt war er endlich zu erschöpft dazu.
Der Pater stand auf. In seinen schiefen, wankenden Schritten kam er auf Thomas zu und blieb vor ihm stehen. Als Thomas ihm ausweichen oder ihn zurückweisen wollte, ergriff der Schwindel erneut von ihm Besitz. Pater Martinus legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte den viel größeren, schwereren Mann behutsam hinunter auf den Schemel. »Ich möchte nicht wissen, wie lange Ihr nichts gegessen habt«, sagte er. »Und ich möchte schon gar nicht wissen, wie lange Ihr ohne Schlaf seid. Tage? Wochen? Wir leben vom Nötigsten hier und verlangen unseren Leibern das Äußerste ab, aber wir schinden sie nicht zu Tode. Sie sind Geschenke Gottes, die wir in Achtung und Dankbarkeit verwalten. Womit hat Euer Leib diese Erbarmungslosigkeit verdient?«
Damit, dass er begehrte, was ihm nicht zustand. Damit, dass er eine Seligkeit erfuhr, auf die kein Erdenwurm ein Anrecht hat. Damit, dass er sich erniedrigen ließ, zu jämmerlichem Gelump zusammenprügeln, das keinen Schutz mehr wert ist.
Thomas’ Glieder begannen zu zittern. Um keinen Preis durfte er vom Schemel rutschen und den jämmerlichen Rest seiner Würde preisgeben, der ohnehin als Würde eines Menschen nicht mehr kenntlich war. Die knochigen Hände des Paters verliehen seinen Schultern, die vor Kraft gestrotzt hatten, Halt. Die Antwort, die Thomas ihm geben wollte, erstickte im Ringen nach Atem.
»Ich frage Euch noch einmal: Womit hat Euer Leib so harte Strafe verdient? Wollt Ihr mir verraten, wofür Ihr verurteilt worden
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