Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
ducken. Stattdessen wurde sie aufgezogen, und das Gesicht eines Mannes erschien.
Männer, die ihr Haar zur Tonsur geschoren trugen, gehörten zum Bild jeder Stadt, und Thomas war jahrelang von solchen Männern unterrichtet worden. Dennoch jagte ihm der Anblick einen kurzen Schrecken ein und ließ ihn zurückweichen, als wolle er fliehen. Unwillkürlich fuhr er mit der Hand an seinen eigenen Schädel. Was er dort ertastete, ließ ihn schaudern, als hätte er nicht längst daran gewöhnt sein müssen. Er zog die Hand zurück und straffte die Schultern mit jäher Heftigkeit, ohne sich um den Schmerz zu scheren.
»Gott zum Gruß«, sagte der Mann, der eine schmucklose, staubgraue Kutte ohne jegliche Insignien einer Amtswürde trug.
Wie ertappt schlug Thomas den Blick zu Boden. »Gott zum Gruß.«
»Eure Kleidung zeugt von erlesenem Geschmack, aber sie taugt nicht für die Jahreszeit.« Er vollführte eine Geste in den Raum, der hinter ihm lag. »Ich kann Euch leider nicht aushelfen, wie Ihr Euch denken mögt. Aber drinnen ist es ein wenig wärmer als hier draußen.«
In Avignon, der Residenzstadt des Papstes, wie in Paris und Montpellier war Thomas Männern des geistlichen Standes begegnet, die in wahren Palästen lebten. Sie bewirteten ihre Gäste mit kandierten Trauben und sizilianischem Wein, saßen bei mannshoch lodernden Feuern, umgeben von erlesenem Mobiliar. Der Raum, in den der Franziskaner ihn führte, erschien dagegen nackt wie eine Gefängniszelle. Mehr als ein Lesepult und zwei Schemel gab es darin nicht, auf den Dielen lag nicht einmal Stroh, und in dem bläulich verkümmernden Feuer verbrannten ein paar dürre Scheite. Die Wände waren weiß getüncht und bar jeden Schmucks.
Natürlich wusste Thomas, dass den Angehörigen des Franziskanerordens jeglicher Besitz verboten war, doch der Komplex der klösterlichen Gebäude hatte keineswegs ärmlich auf ihn gewirkt, sondern schien Macht und Größe auszustrahlen. Die imposante Hallenkirche und die Nebengebäude, an denen noch immer gebaut wurde, waren aus solidem Backstein gezimmert. Sie lagen in der vornehmsten Straße der Stadt, gleich neben dem prunkvollen Hohen Haus, dem Berliner Wohnsitz der Markgrafen, die den Franziskanern das Grundstück in einer Schenkung übereignet hatten. Die Anlage grenzte an die schützende Stadtmauer, und Graues Kloster nannten die Berliner sie gewiss nicht, weil ihre Fassaden grau gewesen wären. Vielmehr gemahnte dieser Name an die graubraunen Kutten der Brüder, die hinter den Fassaden lebten.
Wer war der Mann, der ihn in diesem spartanischen Zimmer empfing? Pater Martinus, der Provinzialminister der Brandenburger Franziskaner, konnte er kaum sein. Er war ein kleiner, ganz und gar unscheinbarer Mann, etwa im Alter von Thomas’ Vater, und er betrug sich ohne jegliches Gehabe. »Setzt Euch, rückt Euch den Schemel näher ans Feuer«, forderte er Thomas auf und stolperte selbst in seltsam eckigen, steifen Schritten zum Pult, um dort Platz zu nehmen.
Thomas kam der ersten, nicht aber der zweiten Aufforderung nach. Kaum saß er, überfielen ihn neuerlich Schwäche und Schwindel, sodass ihm flüchtig schwarz vor Augen wurde.
»Euer Name?«, fragte der Franziskaner.
»Ich bin gekommen, um den Provinzialminister zu sprechen«, erwiderte Thomas mühsam. »Pater Martinus. Mir wurde gesagt, ihn müsse ich einer Entscheidung wegen aufsuchen.«
»Das ist schwerlich ein Name«, bekundete sein Gegenüber. »Aber wenn es beim Antworten hilft: Pater Martinus bin ich. Diener Gottes auf ewig und Provinzialminister des Ordo Fratrum Minorum in Brandenburg auf Zeit.«
»Oh«, entfuhr es Thomas. Etwas in ihm hatte das Gefühl, den Mann um Verzeihung bitten zu müssen, doch die dazu notwendigen Worte waren selbst jetzt noch zu störrisch, um über seine Lippen zu gleiten.
»Schon gut«, bemerkte der Franziskaner, als hätte er Ungesagtes verstanden. »Darf ich jetzt vielleicht Euren Namen erfahren?«
»Thomas Alvensleben.«
»Sohn des?«
»Clewin Alvensleben, Gewandschneider aus Spandau.«
Pater Martinus nickte. »Den Sohn eines Mannes, der sich auf Tuche versteht, sieht man Euch an. Und das ist nicht abfällig gemeint, sondern als Kompliment.«
»Danke«, hörte Thomas sich herausstoßen, verblüfft, wie gut das kleine Wort ihm tat.
Über das Gesicht des Paters huschte ein kurzes Lächeln. »Wie gesagt: Schon gut. Es ist also Euer ureigener, tief empfundener Wunsch, vorerst als Postulant und nach erfolgter gründlicher Prüfung
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