Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
erworben. An dem Abend, nachdem der Vertrag unterzeichnet worden war, hatte Magda verloren auf der Gasse gestanden und im schwindenden Licht auf das Haus gestarrt, in dem sie an keinem leuchtenden Sommermorgen mehr erwachen und das sie an keinem Weihnachtstag mehr mit Misteln, Tannengrün und Eibenzweigen schmücken würde. Weshalb fühlte sie sich, als risse ihr jemand ein Stück aus dem Herzen? Wollte sie nicht fort aus dieser Stadt, die sie verstoßen und gedemütigt hatte, wollte sie das alles nicht vergessen?
Lautlos wie eine Katze war Lentz hinter sie getreten. »Uns Menschen fällt es schwer, unser Haus zu verlassen«, sagte der Bruder, der sich sonst um die Familie kaum noch scherte. »Wohl, weil es uns daran erinnert, dass wir auch in diesem Leben nicht auf ewig bleiben dürfen, sondern unser irdisches Haus eines Tages verlassen müssen, ohne zu wissen, wohin wir gehen.«
Erstaunt hatte sie sich nach ihm umgedreht, und er hatte ihr zugenickt. »Uns bleibt nichts übrig, als zu vertrauen, Magda.«
Er war ihr ältester Bruder und der Klügste von ihnen. Kein anderer vermochte Dinge mit so viel Wärme und Verständnis auszusprechen. Magda hätte sich gewünscht, dass er jetzt, wo der Großvater es nicht mehr konnte, den Platz des Familienoberhauptes übernahm und ihr mit seinem Rat zur Seite stand. Ihm hätte sie womöglich auch zu erzählen gewagt, dass sie seit Endres’ Tod nicht mehr richtig schlief, weil sie die Furcht vor neuen Träumen nicht ertrug. Er aber zog sich sogleich wieder in seine Trauer zurück und überließ es Magda und Utz, für die banalen Belange des Lebens Sorge zu tragen.
Was wäre aus ihnen allen geworden ohne Utz? Er verdiente mehr Anerkennung, mehr Rückhalt von ihr. Jetzt stand er bei der Flanke des mageren Pferdes und prüfte mit sorgsamen Griffen das Geschirr. Martha trat zu ihm. »Ja, du hast Recht«, sagte sie. »Ich will auch daran glauben, dass wir in Berlin wieder Hoffnung schöpfen. Es ist ein neuer Anfang.«
»Und dafür eignet sich keine Stadt so gut wie Berlin, die selbst ein neuer Anfang ist«, versprach Utz und zog sie noch einmal an sich. »Bist du bereit, mein Herz? Soll ich die übrigen holen?«
»Ja, hol sie«, antwortete Magda. »Ich habe nur rasch ein Letztes zu erledigen, und dann werde ich noch etwas Platz auf dem Karren brauchen.« Damit angelte sie sich von der Ladefläche eine der Schaufeln, die Diether und Endres an jenem Tag des Grauens zum Torfstechen benutzt hatten. Keiner von ihnen hatte es seither fertiggebracht, sie zu benutzen, doch zum Wegwerfen waren sie zu teuer. Jetzt war sie froh, das Gerät zur Hand zu haben.
Sie lief in den Hof und begann, mit dem Schaufelblatt auf den hart gefrorenen Boden einzuhacken. Zunächst bewegte sich gar nichts, nur der Schweiß brach ihr aus, und ihre Schultern schmerzten zum Gotterbarmen. Nach einer Unzahl beharrlicher Hiebe jedoch gab das Erdreich nach, die ersten Schollen wirbelten auf und enthüllten eine Schicht, die ein wenig weicher war. Magda biss die Zähne zusammen, grub und hackte, bis die Wurzeln des Gagelstrauchs, die sich tief in die Erde klammerten, sich mit einem Ruck daraus lösen ließen. Mit dem zweiten Strauch verfuhr sie genauso, und dann hatte sie sämtliche Kräfte verausgabt und musste auf die Schaufel gestützt verschnaufen.
»Was tust du denn da?« Aus der Tordurchfahrt ertönte die Stimme des Großvaters, gebrochen und heiser, wie sie jetzt immer klang. Der alte Mann, der nicht mehr gerade stehen konnte, stützte sich am Mauerwerk ab.
»Ich hole die Gagelsträucher«, erwiderte Magda und lud sich die beiden reichlich zerrupften Pflanzen auf die Arme. »Die müssen doch mit nach Berlin.«
»Was willst du denn damit?«, fragte der Großvater. »Wir werden ja im Leben kein Bier mehr brauen, wozu sollen wir die also brauchen, brauchen?«
»Die Gagelsträucher brauchen wir, um zu zeigen, wer wir sind«, erwiderte Magda. »Die Harzers. Das kann niemand uns nehmen.« Sie drückte ihm einen der Sträucher in die Arme und stapfte durchs Tor, um den ihren auf den Karren zu laden. Unterwegs hob sie den geschmiedeten Stern der Bierbrauer auf, den der Pöbel vom Haken gerissen und durch Stiefeltritte verbeult hatte. Behutsam legte sie ihn neben den Strauch und stieg hinauf. »Wir können fahren, Utz. Der Großvater ist schon hier.«
12
Es war der Tag, auf den Utz sein Leben lang gewartet hatte. Natürlich hatte er sich die Reise anders vorgestellt, als Fahrt in die Freiheit, nicht als Flucht
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