Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
für uns auf die Beine stellst und dass du Diether noch nicht aufgegeben hast.«
»Diether hat Furchtbares hinter sich«, sagte Utz. »Er braucht uns mehr denn je.«
Magda streichelte seinen Arm. Die Sonne versank hinter dem Horizont, und das Blauschwarz des Nachthimmels zog herauf, gespickt mit den ersten, lang entbehrten Sternen.
»Schau noch einmal nach vorn«, bat Utz leise und zügelte das Pferd. »Siehst du die dreimal mannshohe Stadtmauer, die Türme, die Wehrzinnen, siehst du, wie machtvoll und wehrhaft diese Stadt ist? Und dort am Ende der Straße erwartet uns das Oderberger Tor.«
Magda nickte beeindruckt. Dann schweifte ihr Blick ab und wanderte zu dem dunklen Gebäude, das zur Linken, ein gutes Stück vom Tor entfernt lag.
»Da sieh nicht hin«, riet ihr Utz. »Und hierher darfst du dich auch nie begeben, es sei denn, einer von uns begleitet dich.«
»Warum nicht? Ist dort das Gefängnis?«
Utz schüttelte den Kopf. »Das Sankt-Georgen-Hospital. Ein Siechenhaus. Hierher schafft man die, denen der Tod schon im Blut sitzt, ehe ihr vergifteter Atem sich in der Stadt ausbreitet. In einem Flügel hausen die Aussätzigen, aber an solches Elend wollen wir heute nicht denken.« Er schnalzte dem Pferd zu, damit es wieder antrabte. »Fahren wir lieber zu. Wir werden es gerade noch schaffen, Einlass zu erlangen, ehe die Torknechte die Riegel für die Nacht verschließen. Dahinter empfängt uns Herr Bechtolt mit dem Schlüssel und der Besitzurkunde für unser neues Heim.«
»Die Besitzurkunde hast du noch nicht?«, fragte Magda. »Aber du hast doch für Haus und Grund schon bezahlt.«
»Gleich nach Neujahr«, erwiderte ihr Bruder ein wenig verdutzt. »Ist daran etwas ungewöhnlich?«
»Ich habe ja keine Ahnung vom Handel«, erwiderte Magda. »Nur hätte mir am Ausschank keiner sein Geld ausgehändigt, ehe er nicht seinen Krug gefüllt bekommen hätte.«
Utz sandte ihr ein Lächeln. »In der Tat, mit dem Bierausschank auf dem Jahrmarkt lassen sich Handel und Geldverkehr nicht vergleichen«, erklärte er. »Wenn es nach mir geht, brauchst du dich mit alledem nicht mehr zu befassen, mein Herz. Ich habe dich Lesen und Schreiben gelehrt, weil ich wollte, dass du zur Not gerüstet bist. Von jetzt an aber soll für dich gesorgt sein, auch ohne dass du dir den Kopf eines Mannes zerbrichst.«
»Es macht mir nichts aus«, sagte sie, doch er merkte ihrer Stimme an, wie erschöpft sie war.
Sie erreichten das Oderberger Tor gerade, als die Wache sich anschickte, die Bolzen herunterzulassen und die schweren Riegel vorzuschieben. Unbehelligt zockelte ihr Fuhrwerk hindurch, und dann waren sie wirklich und wahrhaftig in Berlin. Utz sah das Band der Spree, in dem sich glitzernd das letzte Tageslicht spiegelte, und verspürte eine Erregung, die alle Müdigkeit vertrieb. Er richtete sich halb auf dem Bock auf, um nach Bechtolt Ausschau zu halten, konnte ihn jedoch nirgends erspähen. »Er wird sich verspätet haben«, sagte er zu Magda. Der Großvater und Diether waren auf dem Karren eingeschlafen, Lentz saß neben ihnen und hüllte sich in tiefes Schweigen. »Am besten wir warten hier. Sicher kommt er gleich.«
Der Tag hatte sie mit Sonne überschüttet, doch war es erst März, in den Straßengräben lag Schnee, und jetzt, wo der Abend sich senkte, wurde es empfindlich kalt. Utz, der in seiner Cotta ohne Überrock fröstelte, sah, wie Magda sich ihr Wolltuch fester um die Schultern zog. Was sollte er tun, wenn Bechtolt seinen Brief nicht erhalten oder sich im Tag geirrt hatte? Er hatte kein Geld mehr, das letzte war in den Erwerb der Ware geflossen. Wie und wo sollte er seine Familie zum Schlafen unterbringen, wie auch nur für ein Nachtessen sorgen?
»Ist er das?« Magda stieß ihn in die Seite und wies geradeaus. Eine Gestalt eilte von der Spree her die Straße hinauf. Bechtolt konnte es nicht sein, mit dessen Wanst ließ es sich keinesfalls so schnell laufen. Der Läufer aber hob beide Arme über den Kopf und winkte ihnen zu. Als er näher kam, erkannte Utz, dass es sich um keinen Mann, sondern um einen Jungen handelte.
»Herr Utz!«, rief eine helle Stimme. »Herr Utz Harzer aus Bernau?«
»Der bin ich.« Utz beugte sich vom Wagen hinunter.
Der Junge, der höchstens zwölf Jahre alt sein konnte, blieb schwer atmend vor ihm stehen und hielt ihm einen buckligen, in Leinwand gewickelten Packen entgegen. »Mich schickt der Herr Bechtolt. Leider ist er verhindert, heißt Euch aber trotzdem herzlich willkommen in der
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