Das Mädchen aus dem All
langsam den Korridor entlang, der die Unterrichtsräume ringförmig umgab. Der Tag war trübe, leichter Regen fiel, und der Unterricht fand nicht wie sonst auf den Waldwiesen unter den Bäumen statt, sondern in den Klassenzimmern.
Weda Kong kam sich wie ein Schulmädchen vor. Sie ging auf Zehenspitzen zu den Eingängen und lauschte. Wie in den meisten Schulen, hatten auch hier die Klassenzimmer keine Türen, sondern vorgebaute Wände, die wie Kulissen ineinander verschachtelt waren. Ewda Nal machte das Spiel mit. Die Frauen spähten vorsichtig in die Klassenräume, um Ewdas Tochter zu finden.
Im ersten Raum sahen sie einen mit blauer Kreide gezeichneten Vektor, der über die Fläche einer Wand ging. Um ihn ringelte sich eine Spirale. Zwei Spiralabschnitte waren von querliegenden Ellipsen umgeben, in die ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingetragen war.
»Bipolare Mathematik!« rief Weda leise mit gespieltem Entsetzen.
»Das ist noch nicht alles! Einen Augenblick noch«, entgegnete Ewda.
»Nachdem wir nun die Schattenfunktionen der Kochlearrechnung kennengelernt haben«, erklärte ein bejahrter Lehrer mit tiefliegenden, funkelnden Augen, »kommen wir zu dem Begriff ›Repagularrechnung‹. Der Name ist von einem alten lateinischen Wort abgeleitet, das ›Schranke‹ oder ›Barriere‹ bedeutet, genauer gesagt, wechselseitiger Übergang von einer Qualität in die andere.« Der Lehrer zeigte auf eine der Ellipsen quer zur Spirale. »Auf die Mathematikangewandt, die Erforschung wechselseitig ineinander übergehender Erscheinungen.«
Weda Kong zog die Freundin mit sich fort, und sie verbargen sich hinter einem Vorsprung.
»Das ist ja ganz neu! Das gehört doch zu dem Gebiet, über das Ihr Ren Boos am Meeresufer gesprochen hat.«
»Die Schule vermittelt den Schülern immer das Neueste, das Alte wird ständig verworfen. Wenn sich die junge Generation veraltete Kenntnisse aneignete, wo bliebe da unsere rasche Entwicklung? Der Zeitaufwand für die Wissensvermittlung ist ohnehin noch viel zu groß. Jahrzehnte dauert es, bis ein Mensch den Bildungsstand erreicht hat, der ihn zur Erfüllung seiner gigantischen Aufgaben befähigt.
Dieser rhythmische Wechsel der Generationen, wo auf einen Schritt nach vorn neun Zehntel Schritt zurück folgt, wenn nämlich die ablösende Generation heranwächst und ausgebildet werden muß, ist des Menschen härtestes Gesetz, das Gesetz des Todes und der Geburt. Vieles von dem, was wir in der Mathematik, der Physik und der Biologie gelernt haben, ist veraltet. Anders verhält es sich mit Ihrer Geschichtswissenschaft. Sie veraltet langsamer, da sie selbst sehr alt ist.«
Sie schauten in einen anderen Raum. Hier saßen Jungen und Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren. Ihre geröteten Wangen zeigten, wie sehr sie vom Unterricht gepackt waren.
»Die Menschheit hat die härtesten Belastungsproben bestanden.« Die Stimme der Lehrerin klang erregt. »Und bis heute gilt als Wichtigstes im Geschichtsunterricht, die historischen Fehler der Menschheit mit all ihren Folgen zu studieren. Unser Leben und die lebensnotwendigen Gegenstände wurden immer komplizierter, so daß eine Vereinfachung unumgänglich war. Je komplizierter die Lebensbedingungen wurden, um so mehr verflachte die geistige Kultur. Es durfte nichts Überflüssiges mehr geben, das den Menschen unnötig belastete. Mit allem, was einer Erleichterung des täglichen Lebens dient, befassen sich die besten Köpfe unserer Zeit genauso ernsthaft wie mit wichtigen wissenschaftlichen Problemen. Vorbild war für uns der allgemeine Entwicklungsweg der Tierwelt, der darauf gerichtet war, durch Automatisierung der Bewegungen und Herausbildung der Reflexe die Aufmerksamkeit zu entlasten. Die Automatisierung der Produktivkräfte schuf ein analoges reflektorisches Steuerungssystem in der Produktion und erlaubte den meisten Menschen, sich mit dem zu beschäftigen, was das Grundanliegen des Menschen ist: mit wissenschaftlicher Forschung. Das Gehirn, das uns die Natur gegeben hat, ist zur Forschung bestimmt, wenn es auch ursprünglich nur der Nahrungssuche und der Ermittlung der Eßbarkeit gedient hat.«
»Gut!« flüsterte Ewda Nal. Da entdeckte sie ihre Tochter.
Versonnen blickte das nichtsahnende Mädchen auf das undurchsichtige Fensterglas.
Neugierig verglich Weda Kong das Mädchen mit seiner Mutter: das gleiche lange, glatte schwarze Haar, bei der Tochter allerdings mit einem blauen Band durchflochten und von zwei großen Schleifen
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