Das Mädchen aus dem Meer: Roman
linken Hand, halb verborgen hinter seiner bodenlangen Leinenkutte, hielt er …
… Rossa!
Anstelle seines hellblauen Kinderkleids trug er lederne Beinkleider und einen grünen Wollponcho, und seine kleinen Füße steckten in Miniaturausgaben der hier allgegenwärtigen klobigen Fellstiefel. Außerdem hatte man ihn tatsächlich mit einem kaum unterarmlangen Bogen, dazu passendem Köcher, Pfeilen und einer fürchterlichen Wollmütze ausstaffiert, unter der seine blonden Löckchen vollkommen verschwunden waren. Dafür hatte man ihn anscheinend seit Wochen nicht gewaschen. Er war mindestens genauso schmutzig wie ich. Ich hatte ihn seit einem guten halben Jahr nicht mehr gesehen, und er war ein ordentliches Stück in die Höhe geschossen. Dennoch war es eindeutig Rossa.
Ich sprang so abrupt auf, dass mindestens drei der Lemurenkrieger gleich wieder ihre Waffen auf mich richteten, aber das berührte mich nicht im Geringsten. Ich glaube, ich hätte mich in diesem Moment nicht einmal beherrschen können, wenn sie mir zuvor eine Selbstschussanlage auf die Stirn montiert hätten, die auf die geringste Regung reagierte. Markannesch hob besänftigend eine Hand, während ich den halben Schritt zu meinem kleinen Bruder praktisch noch im Aufspringen bewältigte, und die Krieger ließen ihre Armbrüste, Schwerter und Speere wieder sinken, als ich Rossa in die Höhe riss und an meine ausgemergelte Brust drückte. Ich heulte vor Erleichterung, ihn augenscheinlich wohlbehalten aufgefunden zu haben, und Rossa flennte, weil eine fremde Frau ihn zu zerquetschen drohte und stemmte sich gegen meine Umarmung. Aber ich war stärker und benötigte eben eine kleine Weile, um zu begreifen, dass die Wiedersehensfreude eher einseitig war. Mein Bruder zählte gerade einmal drei Sommer – ein Alter, in dem man vieles sehr schnell vergisst und weniges umso intensiver wahrnimmt.
Als er mir wütend seine Milchzähne in den Hals schlug, erkannte ich ernüchtert, dass ich eindeutig nicht zu dem gehörte, woran er sich noch erinnerte, und ließ ihn auf den Boden fallen.
Rossa huschte wieder in seine Deckung hinter Markanneschs Röcken, spannte einen Pfeil auf und richtete seinen Bogen auf mich, und Markannesch tätschelte ihm das Haupt – wohl um ihn gleichsam für seinen Kampfsinn zu loben, als auch, um ihn davon abzuhalten, mich zu erschießen, indem er ihm vermittelte, dass kein Grund zur Unruhe bestand.
Fassungslos rieb ich mir den Hals. Rossa hatte so fest zugebissen, dass die Wunde blutete, obwohl mein Wollschal meine Haut vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.
»Was hast du aus ihm gemacht?«, hörte ich mich selbst fragen, während Cocha mit leeren, erhobenen Händen an meine Seite schritt, um sodann besänftigend meinen Oberarm zu kneten. »Ein Tier, Markannesch? Einen primitiven Wilden? Und was tut ihr beide hier? Bist du … Hast du ihn entführt? Ausgerechnet du? Wie hast du das geschafft? Und warum, bei Sirrah?«
Markannesch bedachte mich lediglich mit einem knappen Lächeln und verneigte sich knapp vor Kratt.
»Schön, dass ihr alle wohlbehalten hier seid«, grüßte er ihn, statt auch nur eine einzige meiner Fragen zu beantworten. »Unsere Späher haben uns von eurer Ankunft am Hafen in Kenntnis gesetzt. Und auch darüber, dass ihr euch bereits aus eigener Kraft um eine Mitfahrgelegenheit gekümmert habt. Es wäre nicht nötig gewesen, unsere Männer zu bedrohen, Kratt, und das weißt du auch.«
Unsere Männer , wiederholte ich in Gedanken. Markannesch, der jahrelang auf Hohenheim gelebt hatte, der Mann, der den Erstgeborenen seines Faros gelehrt hatte, nannte die Krieger Gormos seine Männer …!
Wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch einen Rest Zweifel gehegt hätte, hätte er sich in dieser Sekunde in Nichts aufgelöst. Markannesch war keine Spur senil, sondern ein hinterhältiger Verräter, der Rossas Entführung ganz sicher von langer Hand geplant hatte. Ausgerechnet Markannesch! Ein Mann, der seinen Nachttopf leer aß, wenn die Magd ihn nicht rechtzeitig auswusch!
Ich war wie vor den Kopf gestoßen, wütend und … empört. Das trifft es wohl am besten. Ich weiß, wenn du jetzt wach wärst, Froh, dann würdest du dagegenhalten, dass auch ich eine Verräterin war. Im Nachhinein rede ich selbst so von mir. Aber damals sah ich das noch ganz anders. Ich war nicht in Montania, um irgendjemanden zu verraten – zumal ich ohnehin nichts wusste, was ich hätte verraten können. Dazu hatte ich im Hohenheimer Thronsaal zu viel mit
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