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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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größte Masse der Freiwilligen bestand also aus abgerissenen Montaniern aus der Ebene, aber das war nicht das Einzige, was mich an diesem Tag enorm beeindruckte. Es war auch Kantorram selbst, obwohl die größte und bedeutendste Stadt Montanias ihre Blütezeit längst hinter sich hatte.
    Das Sternensilber aus den Quellen waberte gemächlich durch den Stadtgraben vor der Wehrmauer aus Korallengestein und tauchte sie in seinen bläulichen Schimmer, und die Dächer der ein- oder zweistöckigen Wohn- und Werkshäuser, Geschäfte und Gaststuben erinnerten an die verschiedensten Arten von Schnecken und Muscheln. Vielen fehlten einzelne Ziegel, und hier und da klafften sogar Löcher in den Dachstühlen, wo einst Erker gewesen waren und jetzt nur noch zerschlissene Wachstücher im warmen Wind flatterten, der vom Meer aus durch die Stadt fegte. Aber der Glanz seines goldenen Zeitalters haftete Kantorram trotzdem noch deutlich an, denn man muss schon sehr viel Zeit und Geld haben, um solch hübsche wie sinnlose Dinge wie diese eigenartigen Dächer zu errichten. Und wo auch immer das dichte Gedränge in den Straßen einen Blick auf die Fassaden der Sandsteinhäuser erlaubte, sah ich kunstvolle Bilder von Männern, Frauen, Kindern, Tieren, Pflanzen und Schiffen, die in den Stein gemeißelt waren. So etwas gab es auch in unseren Städten, sogar im Stadtkern Kirms, obwohl der Ort nicht besonders bedeutend war, und an vielen Stellen waren die Steinmetzarbeiten von Wind und Wetter abgerissen. Die einst scharfen Kanten waren längst stumpf, und dort, wo farbenfrohe Wandmalereien die Fassaden geziert hatten, waren sie kaum noch als blaue und rote Kleckse und die Reste dunkler Konturen zu erkennen. Aber irgendetwas war anders an diesen Bildern, und als wir den Rundbau, der das Rathaus war, irgendwann erreichten, verstand ich auch, was die Kunst Kantorrams von der Lijms und Jamas unterschied. Und was sie so besonders machte.
    Auch dieses vierstöckige, turmähnliche Gebäude verfügte über ein gewundenes Dach, das an eine Wasserschnecke erinnerte. Ein langer Mast reckte rostig, aber stolz eine Fahne mit dem Wappen Montanias in den Himmel, und die Kalksteinfassade war übersät mit Bildhauereien, die die jahrhundertelange Geschichte des cyprischen Montanias erzählte, das Leben in den bis heute fast unberührten Sümpfen aber ebenfalls nicht unbeachtet ließ. Auch in dieser Geschichte klafften überall kleine und größere Löcher. Aber es war trotzdem noch schön – schöner und vor allem intensiver als jede andere, bedeutend größere und kunstvollere Steinmetzarbeit, die ich je gesehen hatte, denn bei uns zu Hause zeugten die Bilder und Geschichten immer nur von einem: Kampf, Krieg, Eroberung und Herrschaft. Und traditionell stellten sie die Schlachten der Vergangenheit dar, als seien sie von einzelnen, furchtlosen Faronen geschlagen worden, die bestenfalls von einem Haufen gesichtsloser Strichmännchen begleitet wurden. Dabei hatte nie auch nur ein einziger bedeutender Herrscher je selbst für sein Volk zur Waffe gegriffen, und auch die bevorstehende Schlacht würde mein Vater bestimmt im Schutze Hohenheims aussitzen, während sich seine Untertanen um seiner Ziele willen zu Zehntausenden in den Tod stürzten …
    Anders jedenfalls die Geschichten, an die die Steinmetze Kantorrams in ihren Werken erinnerten, denn sie befassten sich mit den Wegen der einfachen Menschen, die gekommen waren, um an den Quellen zu arbeiten, Viehzucht in der Ebene zu kultivieren, Häuser zu errichten und Schiffe zu löschen und zu beladen. Ich sah Kinder, die an einem Brunnen spielten, und einen Mann und eine Frau ohne Symbol oder Wappen, die sich auf alle Ewigkeit über einem Fenster liebten. Da waren Hunde, die sich zufrieden vor Werkshäusern sonnten, Stotterer, die Hühner klauten, und darunter Männer, die lächelnd Sternensilber schröpften und Leitungsrohre verschraubten. Kein einziger Stadthalter, Bürgermeister oder auch nur Faro hatte es zu besonderer Erwähnung an der Fassade des Rundbaus gebracht, und obwohl mir all das natürlich reichlich verkitscht erschien, war die Botschaft doch unmissverständlich: Hier in Montania waren tatsächlich alle Menschen gleich. Niemand war bedeutender oder unwichtiger als ein anderer, und dem Jungen, der schräg über mir für immer einem Zwergaffen an den Ohren zog, war mit dem gleichen Respekt zu begegnen wie dem Maschinisten, der sich gleich daneben den Kopf über eine detailreiche Skizze zerbrach. Und

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