Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Ein gigantisches Monster, das Meer hieß, hatte sie vertilgt. Ein unzähmbares Ungeheuer, das sich aufgebäumt und seine Ketten gesprengt hatte, das sich aus dem Bett, in dem es Jahrmillionen geschlummert hatte, erhoben hatte, um nur ein einziges Mal, aber definitiv und ganz unmissverständlich zu verkünden, dass es uns nicht untertan war, dass wir es nie beherrscht hatten, dass es uns nie gedient hatte.
Die See hatte stillschweigend beobachtet und geduldet, wie eine Zivilisation nach der anderen ihre Ufer besiedelt hatte, wie wir auf ihrem Rücken, diesem stetig wogenden Kamm, umhergekreuzt waren, um uns andere Menschen zu unterwerfen, ganze Völker auszubeuten und um die Beute und das, was ihren Küsten gehörte, gegenseitig zu ermorden.
Die Welle hatte nicht nur den Krieg, sondern das ganze, Jahrhunderte lang umkämpfte Montania einfach hinweggespült. Und bald – sehr bald – begriff ich, würde es auch mich schlucken. Zum dritten, vierten, fünften Mal binnen weniger Sekunden, Minuten, Stunden – ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Und dieses Mal würde es mich nicht wieder ausspeien, denn meine Kräfte schwanden.
Etwas rammte meinen Nacken; vermutlich schmerzhaft – die Kälte hatte meine Nerven betäubt. Dem Kribbeln, das dem Kälteschmerz gefolgt war, hatte sich eine Taubheit in den Gliedern angeschlossen, die sich längst nur noch ohne mein bewusstes Zutun bewegten. Der Automatismus der geköpften Gans, deren Körper noch ein paar Schritte weiter flüchtete, während ihr Kopf starren Blickes neben einem Holzblock ruhte …
Jedenfalls spürte ich den Schlag nicht wirklich, sondern nahm nur wahr, wie der Druck mich abrupt ein Stück nach vorn schleuderte und irgendetwas mich zurück unter die Wasseroberfläche zog. Unter mir erstreckte sich das Meer in schier unendliche Tiefen. Ich sah nur Schwärze, aber irgendwo da unten musste sich der Anleger befinden, Kantorram, Montania. Vierzigtausend Krieger aus Lijm und Jama. Tausende Paradieslose, Freiwillige, Männer, Frauen, Kinder, Tiere. Der ganze Kontinent …!
Aber ich konnte nichts davon sehen.
Um mich herum war nur gräulich-blaues Nass, gesprenkelt von Plankton, das das Licht der Abendsonne reflektierte. Mein Grab, dem ich lebendig anheimgegeben war. Aber diese Erkenntnis barg keinen Schrecken mehr, Froh. Irgendwann vor Minuten oder Stunden, es spielte keine Rolle, hatte ich mich aufgegeben. Ich wartete nur noch darauf, dass auch mein Körper endlich vor den unausweichlichen Tatsachen kapitulierte.
Aber mein Leib kämpfte noch immer.
Als kaltes Salzwasser in meine Atemwege drang, versteifte er sich kurz. Meine Lungen stemmten den letzten Rest von Atemluft gegen das Wasser, das sie zu sprengen drohte, und glitzernde Blasen stiegen auf und hefteten sich an einen länglichen Schatten, der irgendwo über mir trieb.
Ein Mani? Nein. Es war viel zu klein, um ein ruderloses Schiff zu sein. Vielleicht ein kleines Boot; möglicherweise aber auch nur Treibholz. Nutzlose Trümmer, die die Legende von Cypria in eine Welt hinaustrugen, die nur noch aus Wasser bestand …
Ganz gleich, was es war – es hätte ein Hoffnungsschimmer sein sollen. Aber ich resignierte nur noch.
Meine Arme jedoch streckten sich, ohne meinen Willen zu beanspruchen, drückten das Wasser beiseite und streckten sich noch einmal und noch einmal, bis ich mit einem unverhältnismäßig kraftvollen Ruck durch die Wasseroberfläche brach. Ich hustete und spie und würgte salziges Nass, und eine Hand schloss sich um einen meiner wild in der Luft herumschlagenden Unterarme und zog mich dicht an den Schatten, der dein Boot war, Froh.
Du hast mir das Leben gerettet. Aber so viele andere Menschen werden es nicht geschafft haben, dass ich dir nicht vorrechnen mag, wie oft die Zahl der Opfer in die Zwanzig passen würde.
41
F roh erhob sich mühsam in eine sitzende Position, um eine Hand auf ihre Schulter zu legen, denn zuletzt hatte sie schon wieder zu weinen begonnen. »Du hast mir das Leben gerettet«, verbesserte er sie sanft. »Denn ohne dich hätte ich mich einfach in den Tod treiben lassen.«
Chita verneinte. »Das war die Liebe, Froh. Nicht ich«, erwiderte sie. »Denn ohne diesen Traum von deiner Niedlich wärst du bestimmt einfach nicht mehr aufgewacht. Hättest du mich nicht gefunden, wäre der Traum sicher einfach früher gekommen. Dann hätte Niedlich dir schon vor Tagen erzählt, dass du gefälligst Vernunft annehmen und heimkommen sollst, und du hättest aufgehört, das
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