Das Mädchen aus dem Meer: Roman
egal sein, dass mein Bruder geheilt wird. Es ist dir doch nicht egal, oder? Sora ist ein Teil von mir. Und ich bin dir doch wichtig, nicht wahr?«
Cocha antwortete nicht. Stattdessen blickte er über die Schulter zu den Kriegern zurück, die Diskretionsabstand wahrten, aber selbstverständlich jedes Wort verstehen konnten. Das war mir in diesem Moment jedoch egal. Die Welt bestand aus Cocha und mir, und gleich, wenn er sich endlich vernünftig erklärt hätte, wäre sie auch wieder vollkommen in Ordnung. Sogar besser, als sie je zuvor gewesen war.
Aber Cocha erklärte sich nicht. Für die Dauer zweier oder dreier Atemzüge sah er zu mir hinab. Dann küsste er meine Stirn.
»Du hast nichts verstanden, kleines Mädchen«, flüsterte er mir ins Ohr. »Damals wie heute. Aber richte Sora trotzdem beste Grüße von mir aus.«
Und damit machte er kehrt und verschwand wieder im Musikhaus. So, wie er mich eben hatte sitzen lassen, ließ er mich nun einfach stehen.
Jetzt verstand ich wirklich nichts mehr. Ich rannte zu meinem Schülerhaus zurück und heulte mich in den Schlaf.
19
A m nächsten Vormittag ließ er mich gleich noch ein drittes Mal hängen. Heute hatte er mir das Tropenhaus des Tierparks zeigen wollen, für das wir in den Wochen zuvor noch keine Zeit gefunden hatten. Silberfels war ja wirklich ganz schön groß. Ehe man die Patenschaften eingeführt hatte, hatten sich zahlreiche neue Novizen so hoffnungslos verirrt, dass zusätzliche Krieger auf den Wachtürmen postiert worden waren, die ausschließlich dazu dienten, vermisste Neulinge aufzuspüren, einzusammeln und zu den Lernhäusern zu bringen. Später hatte man den Weckdienst eingeführt, der die Neuen aus den Betten trommelte und zu den Spezialisten im Zentrum dirigierte, aber damit war nach Schulschluss auch niemandem mehr geholfen.
Besonders zurückhaltendere Jungen und Mädchen, die sich ein bisschen schwerer damit taten, Anschluss an die älteren und erfahreneren Schüler zu finden, irrlichterten Abend für Abend durch die schnurgeraden Straßen mit den Schülerhäusern, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, wussten vor lauter Straßen- und Hausnummern oft nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, und sahen in ihrer freien Zeit kaum mehr von der Stadt der Kinder als das Pflaster unter ihren Stiefeln und reinweiße, s tuckverzierte Sandsteinfassaden. Zudem machten sich die Gr oßen gern einen Spaß daraus, sie mit falschen Wegbeschreibungen in die Irre zu leiten, bis irgendjemandem die Idee mit den Patenschaften kam.
Die Älteren sollten den Jüngeren die Stadt zeigen und erklären – jedem, der zwei Jahre in Silberfels lernte, wurde ein Schützling anvertraut, um den er sich zu kümmern hatte. Idealerweise war das jemand, den der Pate schon aus Kindertagen kannte, wie bei Cocha und mir, aber das war eher die Ausnahme. Wenn ich dir sage, dass immer rund achthundert Novizen in Silberfels leben, klingt das nach einer ganzen Menge. Aber es war die junge Elite eines ganzen Kontinents zusammen mit einer Handvoll Kindern aus dem Mittelstand, die über gute Beziehungen verfügten, und Cypria ist riesig. Das war es zumindest bis vor ein paar Tagen. Aber ich will abwarten, bis wir das Festland erreichen, ehe ich dir mehr darüber erzähle …
Jedenfalls war die Idee mit den Patenschaften wirklich gut, und nachdem man Nachlässigkeiten, wie zum Beispiel das versehentliche Vergessen eines Schützlings im Badehaus, unter empfindliche Strafen gestellt hatte, funktionierte sie auch. Wer sich nicht verantwortungsvoll kümmerte, verbrachte seine freien Tage mit niederen Arbeiten, für die eigentlich die Bediensteten zuständig waren. Da nützte es auch nichts, wenn man beteuerte, dass man seinen Schützling zwar im Badehaus vergessen, aber wenigstens daran gedacht habe, seine Kleider mitzunehmen.
Silberfels sparte eine Menge Geld. Nicht nur an Wach- und Weckpersonal, sondern auch an Mägden und Knechten, denn Verfehlungen gab es natürlich trotzdem zuhauf. Das eingesparte Geld investierte der Dekan mit dem Segen meines Vaters in den Tierpark – die einzige nachträglich errichtete Anlage der Stadt. Zwar gab es schon damals keinen Drachen mehr, dafür aber eine Menge anderer lebendiger Sehenswürdigkeiten, die aus der ganzen Welt importiert wurden. Und die exotischsten Kreaturen waren im Tropenhaus untergebracht, das wir uns heute hatten ansehen wollen.
Aber Cocha kam nicht. Stunde um Stunde starrte ich apathisc h auf die holzvertäfelte Wand meines
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