Das Mädchen aus dem Meer: Roman
woher diese Dinge kommen, die ihr mal gleichgültig, mal fröhlich entgegennehmt. Geld und Kleider, Schmuck und Spielzeuge, Tiere und sogar Menschen, die euch dienen …
Und nun eben auch noch ein Herz. Ein Herz, das einen Menschen am Leben hält. Oder, anders gesagt: ein Herz, ohne das ein anderer Mensch nicht mehr leben kann . Also noch einmal: Woher kommt dieses Herz?«
Darüber hatte ich tatsächlich noch nie nachgedacht. Jetzt dachte ich nach und fand auch schnell eine plausible Antwort.
»Von einem Toten«, sagte ich.
»Das Herz eines Toten schlägt nicht mehr«, gab Cocha zu bedenken.
»Dann macht Hommijr, dass es wieder schlägt«, erwiderte ich schulterzuckend. Für mich war das ein klarer Fall, und zunächst glaubte ich tatsächlich, Cocha von meiner Theorie überzeugt zu haben, denn er sagte nichts mehr dazu.
Bald sahen wir Licht am Ende des Tunnels – aber es war nicht die Sonne, die in den Schacht schien, sondern das flackernde, schwache Leuchten einer Laterne oder einer Fackel, die in einer Felsnische brannte. Sie war die erste von einem halben Dutzend, die uns nun den Weg in eine weitläufige Höhle wiesen.
Und in dieser Höhle hausten Menschen!
Ich hörte ihre Stimmen lange, bevor wir die Höhle erreichten, und verharrte.
»Wer ist da hinten?«, wollte ich von Cocha wissen. »Andere Novizen? So viele ?«
»Andere Menschen«, antwortete Cocha und zog mich weiter. »Und: Ja, es sind viele. Ich hatte dir gesagt, dass ich dir jemanden vorstellen möchte.«
Das hatte er tatsächlich. Aber er hatte mir etwas verschwiegen.
Nämlich, dass sich dieser Jemand nicht nur in den Felsen aufhielt, sondern tatsächlich darin lebte . Zusammen mit Dutzenden anderen Krüppeln, Kranken, Simpeln, Verbrechern und Abtrünnigen.
Aus der mäßig beleuchteten Grotte, in die wir uns durch einen Felsspalt quetschten, schlug mir der erbärmliche Gestank von Fäkalien und Krankheit entgegen. Kot, Urin und Erbrochenes dampften in einer Mulde zu meiner Rechten in der Kälte. Nur zur Mitte der Höhle hin war die Kloake mit einem provisorischen Sichtschutz aus ungeschickt zusammengenagelten Brettern versehen. Bleiche, ausgemergelte Gestalten vegetierten in löchrige, modrige Decken und Felle gehüllt um einen klaren, unterirdischen See in der Mitte der Höhle herum, klagten, winselten, redeten leise oder schlürften oder löffelten kaum definierbare Dinge aus anderen schwer definierbaren Dingen aus Ton oder Holz. Weniger Kranke fütterten sehr Kranke oder flößten ihnen Wasser und Medizin ein oder verbanden deren Wunden oder eitrige Geschwüre.
Ich sah eine Frau, der ein Auge fehlte, und einen Mann, dessen Wirbelsäule derart missgebildet war, dass er den Kopf fast unter dem Arm trug. Ein Baby ohne Beine robbte allein kraft seiner Arme am Ufer entlang, und ganz weit vorne, fast vor meinen Füßen, sabberte ein Simpel mit unsinnig weit auseinanderstehenden Augen und viel zu großem Kopf vor einen der armlangen Stalagmiten, die sich den Stalaktiten an der Decke entgegenstreckten. Im schwachen Licht der wenigen Laternen und Fackeln glänzten die steinernen Zapfen in sanften Pastelltönen, und das Wasser des Sees, das so klar war, das man bis auf den Grund hinabsehen konnte, funkelte und glitzerte verführerisch vor sich hin.
Ich meine: Es hätte ein traumhaft schöner Ort sein können. Aber die Kloake – und vor allem all diese kranken, heruntergekommenen Gestalten! – ruinierten den an sich glattweg romantischen Anblick der weitläufigen Höhle völlig. Außerdem versuchte der Gestank, meinen Mageninhalt zu ködern.
Cocha, der vorgegangen war, ließ sich vor dem sabbernden Simpel mit dem riesigen Kopf in die Hocke sinken und küsste ihn auf die Stirn, wie er mich gestern Abend geküsst hatte, als wäre gar nichts dabei. Der missgestaltete Junge versuchte lachend in die Hände zu klatschen, zielte aber zu schlecht und zerkratzte Cocha versehentlich die Wange, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Im Gegenteil: Er lachte darüber und klopfte der Missgeburt freundschaftlich auf den Rücken!
Ich war entsetzt. Wusste Cocha denn nicht, wie gefährlich das war, was er hier unten trieb? Hatte er denn überhaupt keine Angst, sich mit dem Wahnsinn anzustecken, oder mit einer der zahlreichen anderen Krankheiten, die sich hier unten ballten?
Offenkundig nicht.
»Komm, kleine Faronin!«, verlangte er mit einem Schulterblick zu mir. »Stell dich meinen Freunden vor! Sie bekommen nur selten so hohen Besuch!«
Ich
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