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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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schüttelte mich und ging im Gegenteil einen Schritt rückwärts. Ganz im Gegensatz zu ihm fürchtete ich nämlich sehr wohl um meine geistige und körperliche Unversehrtheit (sofern man bei meinem zerschlagenen, zerkratzten, an zahllosen Stellen übel geprellten Leib denn noch davon reden wollte), und der einzige Grund, aus dem ich nicht auf dem Absatz kehrtmachte und ins Freie flüchtete, war, dass mir völlig klar war, dass ich den Weg zurück allein niemals finden würde.
    »Reiß dich zusammen!«, zischte Golondrin, der den Abschluss bildete und mich vollends durch den Felsspalt schob. »Du wolltest es wissen. Jetzt weißt du’s.«
    »Wollte ich nicht«, log ich. »Ich wollte Anna nur fragen … wegen der Ausschreibung für die Exkursion nach … nach …«
    »Hör mit dem Blödsinn auf«, ermahnte mich Cocha, der wieder zu mir zurückgekehrt war und mich nun mit sanfter Gewalt am Oberarm zum See führte.
    »Warum sind sie nicht in Walla?«, stammelte ich entsetzt, während mein Blick ein eingefallenes Gesicht nach dem anderen streifte und mein Gehirn vor lauter Ekel die Sehnerven zu kappen versuchte – leider vergeblich. »Sie gehören nach Walla. Sie alle, richtig? Selbst die, die nur fast verhungert aussehen; sie sind alle krank oder mangelhaft, nicht wahr? Oder …« Mir kam eine fürchterliche Idee, und ich blieb wie angewurzelt stehen und nötigte Cocha, mich anzusehen, indem ich ihn am Kragen zu mir hinriss. »Ist das hier Walla?«, erkundigte ich mich entsetzt.
    Lächelnd schüttelte Cocha den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das hier ist nicht Walla. Es ist nur eine Alternative.«
    »Eine bessere Alternative«, betonte Golondrin düster.
    »Und das hier«, erklärte Cocha weiter und schob mich zu einem der Krüppel hin, dessen Beinstumpf knapp unter der Hüfte mit einem schmutzigen, blutigen Verband versehen war, »ist mein Freund Laris. Wahre die Etikette und grüße ihn anständig, Chita, denn er hat zwar nur noch ein Bein, aber er ist trotzdem ein Mensch wie du und ich.«
    Das Baby, das überhaupt keine Beine hatte, erreichte Golondrin, klammerte sich an seinen Unterschenkel und begann, an seiner Wade zu nuckeln. Golondrin beugte sich zu dem Kind hinab, hob es vom Boden auf und wiegte es kurz in den Armen.
    »Normalerweise bringen wir ihnen immer etwas mit«, erklärte er. »Vor allem den Kleinen. Zuckerzeug, süßes Gebäck und dergleichen.«
    »Warum hat Laris nur ein Bein?«, erkundigte ich mich steif.
    Ich wollte einfach nur weg. Cocha sollte mir zeigen und erklären, was auch immer er mir so dringend hatte zeigen und erklären wollen, und mich zügig nach Silberfels zurückbringen. Danach würde ich all die Krankheiten, aus denen sich die Luft h ier unten zweifelsohne zusammensetzte, und den Schmutz, de r an mir haftete, mit kochend heißem Wasser abspülen, meine Wunden verbinden lassen und den Dekan konsultieren. Ich würde dafür sorgen, dass Cocha, Golondrin und Anna die Stadt unverzüglich zu verlassen hatten und niemals zurückkehren durften. Ich würde all die bedauernswerten Kranken, Krüppel und Simpel, die sich hier versteckt hielten, nach Walla bringen lassen, wo man sich vernünftig um sie kümmerte und sie ein gutes Lebens haben würden.
    Und ich würde vergessen, dass Cocha existierte. Ich würde nie wieder an ihn denken – und sei es um den Preis, dass ich mir den Teil meines Hirns, in dem sein Name lagerte, amputieren lassen und selbst den Weg nach Walla antreten musste!
    »Laris hat nur ein Bein, weil ein Mann, der sehr wohlhabend war, ein Bein verloren hat«, erläuterte Cocha, während Laris mir ein zahnloses Lächeln schenkte. Er war schmutzig, stank erbärmlich und litt ganz nebenher offenbar unter irgendeinem Parasitenbefall, denn überall, wo sein schütteres Haar den Blick auf seine Kopfhaut erlaubte, war letztere aufgekratzt oder verkrustet.
    »Was bist du? Ein Spiritueller oder so was?«, wandte ich mich an Cocha. Inzwischen war ich wütend. »Hat Laris vielleicht auch kaum noch Haare, weil mein Urgroßonkel, der über Rang und Namen verfügt, eine Halbglatze hat? Willst du mir erklären, dass die beiden irgendwie auf magische Weise miteinander verbunden sind, und dass wir viele Gebete sprechen müssen, um dieses Band zu trennen – oder um seine Seele an die eines Mannes mit goldenen Locken zu knüpfen?«
    »Bist du wirklich so blöd, oder tust du nur so?«, stöhnte Golondrin und trug den verkrüppelten Säugling zu einer schlafenden Frau, als ihn ein mahnender Blick

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