Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Reden der Männer erhob und sofort für Ruhe sorgte: „Wie kann ich euch zu Diensten sein? Soll ich mir eure Kranken ansehen? Ich habe ein sehr wirksames Kraut bei mir, das hilft gegen –“
Abermals kam Gemurmel auf, ein Ruf erschallte: „Die Zukunft sollst du mir vorhersagen, altes Weib! Wie wird die Ernte werden?“
„Wird meine Tochter im kommenden Frühling ein gesundes Kind gebären?“, fiel ein anderer ein.
„Kommt Unglück über uns? Werden wir mit Sünden den Zorn Gottes auf uns lenken?“
Immer aufgeregter drängten die Männer sich um die bucklige Frau. Da packte jemand Reeva am Arm und schüttelte sie: „Was tust du hier, Hinkebein? Das ist nichts für Kinder! Mach, dass du wegkommst!“
Erschrocken lief die Kleine fort.
Als sie Stunden später zurückkehrte, fand sie den Dorfplatz verlassen vor. In der Ferne grollte der Donner eines Sommergewitters, und strömender Regen durchweichte den staubigen Boden. Schließlich entdeckte das Mädchen unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen eine Person, die Schutz vor dem Unwetter suchte: Es war die geheimnisvolle Alte.
Wie von selbst trugen ihre Füße Reeva auf die Greisin zu, doch in einiger Entfernung hielt sie inne und sah die Frau ehrfürchtig an. Dabei wunderte sie sich im Stillen: Warum war die Alte von den sonst so gastfreundlichen Bauern einfach im Regen stehengelassen worden?
Als hätte die Fremde Reevas Gedanken gelesen, sagte sie leise: „Mit jedem fahrenden Quacksalber teilen sie Mahl und Stube; doch sie brächten wohl keinen Bissen herunter, müssten sie mit mir am selben Tisch sitzen! Sie fürchten mich, weil ich anders bin …“
Der faltige Mund verzog sich zu einem müden Lächeln, das seltsam traurig wirkte. Eine Weile sah die Alte gedankenverloren vor sich hin. Dann legte sie plötzlich ihren knotigen Zeigefinger unter Reevas Kinn und hob deren Kopf, sodass sie dem Mädchen direkt in die Augen sehen konnte. Eindringlich raunte sie: „Auch du, meine Tochter. Auch du bist anders, und deshalb wirst du nicht lange an diesem Ort bleiben können. Aber du wirst eines Tages erkennen: Du bist zu gut für sie, zu gut selbst für Könige.“
Die Frau schien den Blick des Mädchens festzuhalten, und Reeva verlor sich in den Tiefen dieses einen Auges. Bis zum nächsten Lidschlag schien sie Eins zu sein mit der Greisin, schien ihre Vergangenheit zu kennen und ihre Zukunft zu teilen.
Dann nickte die Alte ein paarmal, als würde ihr etwas bestätigt, das sie ohnehin schon geahnt hatte. Sie zog sich die graue Kapuze tief ins Gesicht, und ihre Hand berührte den Kopf des Mädchens, sacht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings: „Auf Wiedersehen, meine Tochter.“
Damit drehte sie sich um und humpelte davon. Erstaunlich schnell entschwand die gebückte Gestalt Reevas Blick …
***
Als Reeva erwachte, glaubte sie sich zunächst im Stall: Sie fühlte sich so warm und geborgen, wie sie es seit Jahren nur mehr in der Nähe der Tiere erlebt hatte. Dann erst bemerkte sie die Stille – das fehlende Schmatzen und Schnauben der Schweine – und den ungewohnten Geruch. Verwirrt drehte sie sich zur Seite und hörte dabei einen Strohsack unter sich knirschen. Außerdem spürte sie bei dieser Bewegung ihre Wunde am Hinterkopf, doch als sie danach tastete, trafen ihre Finger auf einen Verband.
Endlich öffnete Reeva die Augen. Ihr erster Blick wanderte an ihrem Körper hinab, und sie stellte fest, dass jemand ihr saubere Kleider angezogen hatte. Danach schaute sie sich in der Stube um, in der sich außer den Schlafstätten noch ein Tisch mit einer Bank und eine Feuerstelle befanden. Der Strohsack an der gegenüberliegenden Wand war leer: Die alte Frau – und Reeva zweifelte nun nicht mehr daran, dass sie sich in deren Heim befand – musste bereits nach draußen gegangen sein.
Kurzentschlossen schwang Reeva die Beine über den Rand ihres Lagers und hinkte zu der niedrigen Tür. Kaum hatte sie diese aufgestoßen, strömte ihr ein herrlich süßer Duft entgegen: Das Haus befand sich auf einer Waldlichtung und war von einem üppigen Garten umgeben. Neugierig spazierte das Mädchen umher, bestaunte die Pflanzen und befühlte einige samtweiche Blütenblätter. Es war so vertieft darin, diese wilde und doch bezwungene Schönheit zu bestaunen, dass es auf nichts anderes achtete.
Als Reeva den Blick schließlich hob, blieb sie wie gebannt stehen. Nicht weit von ihr kniete die alte Frau auf dem Boden, den Kopf gesenkt, sodass ihr das
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