Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
machte sich klein: Sie ergab sich diesen fremden Mächten, die sie nicht verstand und denen sie sich nicht mehr gewachsen fühlte.
Das Einzige, was sie davon abhielt, den Kampf gegen die Krankheit einfach aufzugeben, waren ihre Instinkte als Heilerin. Niemals hätte sie einem Patienten erlaubt, sich so ohne weiteres dem Tod vor die Füße zu werfen. Wie konnte sie es dann bei sich selbst zulassen? Von einem Willen getrieben, der nichts mehr mit klarem Verstand zu tun hatte, zwang sie sich, das Feuer anzufachen und Arzneien zuzubereiten, sooft sie genug Kraft dazu besaß. Diese Medizin musste getrunken werden, so hätte es jede andere Heilerin angeordnet, und so befahl sie es sich daher auch selbst. Doch es war nicht einfach. Wenn es ihr besonders schlecht ging, rief sie manchmal nach Enva, ohne sich später daran erinnern zu können. Wo war die Freundin, die Großmutter, die ihr die Tränke einflößte oder ihr wenigstens gut zuredete? Ohne den Halt eines anderen Menschen war es schwer, nicht zu fallen.
Lange dauerte es, bis sich der Kampf in ihrem Körper endlich legte und das Fieber zurückging. Schließlich spürte Reeva die leichte Verbesserung, doch sie war zu schwach, um sich wirklich darüber zu freuen. Nun, da die schlimmsten Schmerzen und Ängste überstanden waren, dämmerte sie in einem Zustand völliger Erschöpfung vor sich hin. Sie konnte weder sehen noch hören, was um sie vorging; alles, was sie wahrnahm, spielte sich in ihrem Innern ab.
Dann erwachte sie eines Tages, und ihre Sinne waren klar. Sie bemerkte den Geruch von kalter Asche und feucht gewordenen Felldecken, und sie hörte ein leises Rascheln. Als sie die Augen aufschlug und den Kopf zur Seite drehte, sah sie den Fuchs in seiner Ecke, der an einem Stück Fleisch nagte. Im selben Moment blickte er auf, und sein Schwanz fing sofort an zu schlagen. Mit wenigen Sprüngen durchquerte er die Höhle und hielt dann inne. Vorsichtig setzte er seine Pfoten auf ihre Brust, als wüsste er, wie schwach sie noch war; danach konnte er aber seine Freude nicht mehr zurückhalten und fuhr mit seiner Zunge ungestüm über ihre Wange.
Als Reeva sich aufsetzte, wurde sie augenblicklich von einem heftigen Schwindelgefühl erfasst. Ihre Knöchel traten weiß hervor, während sie sich an einem Vorsprung der Höhlenwand hochzog. Schritt für Schritt bewegte sie sich durch ihre Behausung und ließ ab und zu die Finger über einen Gegenstand gleiten, als sähe sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wieder: ein Salbentiegel. Die aufgeschichteten Holzscheite. Ein Gefäß, gefüllt mit einem Vorrat an getrockneten Pilzen.
Zuletzt erreichte sie den Verschlag der Ziege, den sie im hintersten Teil der Höhle errichtet hatte. Noch bevor sie über die halbhohe Holzwand blicken konnte, lockte sie mit freundlicher Stimme: „Graufell, Graufellchen!“ Dann erstarb ihr Rufen mitten im Wort, und der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken.
Die Ziege lag in einer Ecke; unter ihrem hellgrauen Fell zeichneten sich spitz die Rippen ab. Ansonsten war der Verschlag leer: Das Futter, welches Reeva an der Höhlenwand aufgehäuft hatte, war völlig verbraucht.
Das Mädchen riss einen Pflock beiseite und stolperte in den Verschlag. Als es sich neben Graufell niederkniete, erkannte es, dass das Tier erst vor kurzer Zeit gestorben sein musste. Doch was Reeva nicht begreifen konnte, war, wie sie – wenn auch von hohem Fieber gequält – das klägliche Meckern einer Ziege überhört hatte, die in ihrem Stall verdurstet und verhungert war.
Das Tier wog nicht schwer in ihren Armen, als Reeva sich anschickte, es ins Freie zu tragen. Dennoch trat ihr der Schweiß auf die Stirn, während sie mit der toten Ziege durch die Höhlenöffnung kroch. Draußen lag immer noch tiefer Schnee, doch diesmal sank sie nicht bis zu den Knien darin ein, denn seine Oberfläche war gefroren. Die Sonne war schon längst untergegangen, aber im milchigen Mondlicht, das von der weißen Fläche zurückgeworfen wurde, konnte Reeva trotzdem viele Umrisse erkennen. Mühsam machte sie einige Schritte durch den knirschenden Schnee von der Höhle weg, dann ließ sie den Körper Graufells erschöpft zu Boden gleiten. Sie richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, um tief die eiskalte Luft einzuatmen. Als sie nach einigen befreienden Atemzügen die Augen wieder öffnete, sah sie die Sterne über sich am ungewöhnlich klaren Himmel. Und plötzlich, sie konnte nicht sagen woher, wusste sie, dass es Neujahr
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