Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ein wenig Schnee für Trinkwasser zu schmelzen. Sonst döste sie vor sich hin, wie es wohl in dieser Zeit alle Tiere des Waldes taten, plauderte mit Ramo und Graufell oder sang ihnen leise etwas vor.
Etwa drei Tage mochten so vergangen sein. Am vierten Tag wachte Reeva mit dem Gefühl auf, dass die Welt frisch und neu war. Eilig schubste sie den protestierenden Ramo von ihrem Bauch, zog ihre wärmste Fellkleidung an und kroch hinaus.
Der Sturm hatte sich verzogen und den Wald strahlend weiß zurückgelassen. In hohen, sanften Hügeln lag der Schnee auf dem Platz vor ihrer Höhle und lastete so schwer auf den Ästen der Bäume, dass sich diese tief zur Erde neigten. Als Reeva den ersten Schritt tat, sank sie bis zu den Knien ein. Obwohl sie sich nur schwer fortbewegen konnte, stieg ein ungewohntes Gefühl von Leichtigkeit in ihr hoch. Den Fuchs, der sich schließlich auch misstrauisch aus der Höhle hervorwagte, empfing sie mit einem Wirbel aus weichem Schnee, der sein dichtes Winterfell einstäubte. Verärgert nieste er und fuhr sich mit der Zunge über die Schnauze; bald aber ließ er sich von ihrem Übermut anstecken und tollte mit dem Mädchen durch den hochstiebenden Pulverschnee.
Noch niemals zuvor hatte Reeva den Winter auf diese Art erlebt: Zwar hatte sie den anderen Kindern im Dorf oft bei Schneeballschlachten und wildem Toben zugesehen, doch in ihr selbst hatte dieser Anblick nur die Sorge geweckt, ob sie wohl einen trockenen Schlafplatz für die Nacht finden würde.
Nachdem sie ihrer ersten Freude Luft gemacht hatte, stapfte Reeva in den Wald hinein. Ramo folgte ihr, immer eine Pfote genau vor die andere setzend, sodass er eine Spur von Abdrücken hinterließ, die aussah wie eine Kette aufgefädelter Perlen. Und beide hinkten sie: das Mädchen und der Fuchs.
Reeva hatte kein besonderes Ziel, aber nachdem sie kreuz und quer zwischen den Bäumen umhergewandert war, kam sie zu einem kleinen Waldsee, der sich auf einer Lichtung nicht allzu weit entfernt von ihrer Höhle befand. Es war kaum zu erkennen, wo das Ufer aufhörte und wo der See anfing, denn das zugefrorene Gewässer war mit Schnee bedeckt; als Reeva jedoch vorsichtig ihren Fuß daraufsetzte, spürte sie eine feste, spiegelglatte Fläche, die zum Schlittern einlud. Zunächst tat das Mädchen noch behutsam Schritt um Schritt, dann aber rannte es immer schneller, nahm Anlauf und glitt mit Schwung über das Eis. Laut kläffend folgte ihm der Fuchs, der in weiten Sätzen dahinfegte und sich immer wieder im Schnee wälzte.
„Fang mich, Füchslein! Fang mich doch!“ Weiße Wölkchen bildeten sich vor Reevas Mund, als sie über das Eis jagte, das Haar im Wind flatternd, und sie lachte, lachte.
Mit einem scharfen Knacken zerbrach ihre Welt in tausend Stücke. Reeva war zu überrascht, um zu schreien. Das kalte Wasser umschloss ihre Brust wie eine eiserne Faust, nahm ihr den Atem, ließ sie nach Luft schnappen und nur langsam begreifen, was geschehen war. Dann begannen ihre Beine zu stoßen, und ihre tauben Finger suchten nach einem Halt. Der Rand des Eisloches zerbröckelte jedoch unter ihren Händen, während sich ihr Fellumhang langsam voll Wasser sog. Die Kälte schmerzte mehr als alles, was sie bisher erlebt hatte – war mehr, als sie ertragen konnte. Immer wieder schwappte das Wasser nun gegen ihr Gesicht und in ihren Mund; sie hustete und sank neuerlich hinab. Weiter. Mach weiter! , schrie es in ihren Gedanken, aber allmählich schwanden ihre Kräfte. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig; selbst die Kälte nahm sie nun nicht mehr so stark wahr. Das Wasser strömte über sie hinweg, griff von unten nach ihr; sie ließ es geschehen. Rasch wuchs der Druck auf ihrer Brust und hinter ihren Schläfen, bis bunte Funkengarben vor ihren Augen tanzen.
Dieser Druck brachte Reeva wieder zur Besinnung. Die zurückkehrende Panik gab ihr ein letztes bisschen Kraft, das sich in einem Winkel ihres Körpers verborgen hatte. Verzweifelt mühte sie sich, zu atmen, Luft! Luft! , und spürte ihr Herz in ihrem Kopf hämmern, als wollte es ihn zertrümmern. Luft! Ihre Hände zerrten an dem Fellumhang, der sie unter Wasser hielt, und endlich gelang es ihr, sich von ihm zu befreien. Schon tauchte sie nach oben, es wurde heller, gleich würde sie die Wasseroberfläche durchstoßen, gleich … sie streckte ihre Arme aus – und traf auf eine feste Eisschicht.
Todesangst. Reeva tastete über diese harte, unerbittliche Eisdecke, wo war eine Öffnung, wo war die
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