Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
auszumachen, wie er Sprünge vollführte und mit Leichtigkeit über Hindernisse hinwegsetzte …
Das Reh … Es lief panisch zwischen den Bäumen dahin, gehetzt von einigen Männern zu Pferde. Allen voran sprengte ein Mann auf einem prächtigen Schimmel, bereit, das Tier zu schießen. Auf einmal gellt ein schrilles Wiehern durch den Wald, das weiße Pferd strauchelt, stürzt: Es begräbt den Reiter unter sich.
Reeva presste die Lider zusammen. Sie wollte diese Bilder nicht sehen, wollte vergessen, wollte sich nie mehr an diese Gabe erinnern –
Entsetzte Schreie. Die anderen Männer zügelten ihre Pferde, sprangen ab und eilten auf den Gestürzten zu. Der Schimmel wälzte sich auf die Seite, kam schnaubend auf die Beine. Ein Mann kniete neben dem Verunglückten nieder und legte ihm ein Ohr an die Brust, dann schüttelte er den reglosen Leib verzweifelt …
Reevas Zähne gruben sich in ihre Unterlippe, bis sie einen Tropfen Blut auf der Zunge schmeckte. Der scharfe Schmerz ließ die Vision endlich verschwinden, die Bilder wurden undeutlich, faserten auf und waren schließlich fort. Zurück blieb ein Mädchen, das stolpernd den Weg nach Hause suchte und sich auf seiner Schlafstätte zusammenrollte. Während Reeva dort lag, die Arme fest um ihre Knie geschlungen, wurde ihr eines klar: Nie mehr würde sie eine Vision zulassen und all dieses Leid mitansehen. Das zweite Gesicht hatte Enva kein Glück gebracht – dass es auch sie selbst, Reeva, ins Verderben stürzte, das konnte sie verhindern.
***
Zwar setzte Reeva alles daran, diese eine Gabe in ihrem Innern zu begraben, doch die andere war ihr teuer. Während sie durch den Wald streifte und Pflanzen in ihren Korb pflückte, begriff sie, dass sie unbewusst schon längst eine Entscheidung gefällt hatte. Für wen sammelte sie denn all diese Kräuter? Warum füllte sie die Öle dieser Pflanzen in Gefäße, zerstampfte die Wurzeln und trocknete die Blätter? Sie würde wieder zu den Menschen gehen, um sie zu heilen – es wurde Zeit für die Sommerwanderung.
Gleich nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, wurde sie von nicht enden wollenden Zweifeln und Ängsten geplagt. Warum brachte sie sich selbst in Gefahr, warum konnte sie nicht einfach hier im Wald bleiben und wie all die Tiere einen friedlichen Sommer erleben? Doch noch während sie sich diese Frage stellte, wusste sie, dass sie das eben nicht konnte. Viel zu lange wurde sie schon von dieser Unruhe gequält, deren Ursache sie nun begriff: Sie musste endlich wieder ihre Pflicht erfüllen, die ihr zusammen mit ihrer Heilkraft auferlegt worden war.
Der Aufbruch war diesmal um einiges leichter. Es gab keine Haustiere, um deren Auskommen sie sich kümmern, und kein Häuschen, um das sie sich sorgen musste. Es fühlte sich seltsam an, als Reeva eines Morgens im Frühsommer einfach ihr Bündel mit den Kräutern und Arzneien, etwas Proviant und Kleidung schnürte, das Herdfeuer löschte und sich auf den Weg machte. Einmal blieb sie stehen und drehte sich um, doch da war die Höhle bereits zwischen den Bäumen verschwunden.
Reeva schlug eine völlig andere Richtung ein als im Jahr davor: Sie wollte weder ihrem alten Heimatdorf, noch den von der letzten Wanderung bekannten Orten zu nahe kommen. Der Weg durch den Wald war weit, und mit dem großen Bündel kam das Mädchen nicht sehr schnell voran. Zwei Nächte verbrachte es unter den Wipfeln der Bäume, die sich leise rauschend im Wind wiegten und es von allem Bösen abzuschirmen schienen. Am späten Nachmittag des dritten Tages schließlich sah es zum ersten Mal nach vielen Monaten wieder die strohgedeckten Dächer eines Dorfes.
Die Angst schnürte Reeva die Kehle zu, und ihre Finger wurden kalt, während sie mit steifen Schritten auf das erste Häuschen zuging. Diesmal gab es keine Hand, an der sie Halt suchen konnte; nun würde sie allein vor den geifernden Hunden flüchten müssen, die ihr die Bauern hinterherhetzten.
Doch in dem Gesicht der jungen Frau, die auf Reevas zaghaftes Klopfen hin die Tür öffnete, spiegelten sich weder Furcht noch Abscheu. Sie blickte das fremde Mädchen bloß neugierig an: „Ja? Was möchtest du denn?“
Reevas Finger zerrten nervös an dem ausgefransten Saum ihres Umhangs, während sie jene Sätze wiederholte, die Enva stets gesagt hatte: „Ich bin eine Heilerin auf Wanderschaft. Habt ihr einen Kranken, den ich mir ansehen soll?“
Kamen sie jetzt, die verhassten Worte? Reeva fühlte, dass es um ihren Mut
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